Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
für einen Drink. Und für einen raschen Abgang.
»Ich rufe Louis an und reserviere einen Tisch«, fährt Dexter fort. »Ich sag dir Bescheid, falls es Probleme geben sollte.«
Kate ist sicher, dass es keine Probleme geben wird, weder mit Louis noch mit dem Tisch, doch sie kann sich eine ganze Reihe anderer Probleme vorstellen, die fast alle gleich enden: mit einem hellbraunen 50-Euro-Schein und der Rechnung unter dem schweren Glasaschenbecher und mit eiligen Schritten um die nächste Straßenecke. Sie sieht vor sich, wie sie in den Kombi steigen, auf dessen Rücksitz die Jungs bereits angeschnallt und abfahrbereit sitzen und Sylvie, dem Kindermädchen, zum Abschied winken. Dann die rasante Fahrt in Richtung Seine, über die Pont Neuf und die breiten Ausfallstraßen Richtung Autobahn. Sie würden auf der A4 in östlicher und dann auf der A31 in nördlicher Richtung fahren, in ein anderes Land, über Straßen, die irgendwann schmaler und kurviger und hügeliger werden, bis sie, vier Stunden nachdem sie die Parkgarage am linken Seineufer verlassen haben, vor den steinernen Toren des weiß gestrichenen Bauernhauses inmitten der bewaldeten, dünn besiedelten Ardennen stehen.
In der Toilette im Erdgeschoss des kleinen Steinhauses ist in einem defekten Boiler mit starken Magneten eine Metallkassette befestigt.
»Okay. Und, Dexter? Julia wollte, dass ich dir etwas ausrichte.«
Sie haben die überstürzte Fahrt in die Ardennen bereits geprobt. Ein Probelauf.
»Ja?«
»Der Colonel ist tot.«
Dexter erwidert nichts.
»Dexter?«
»Ja«, sagt er. »Ich habe es gehört.«
»Gut, à bientôt .«
Im Inneren der Kassette befinden sich Bündel mit brandneuen Banknoten. Eine Million Euro. In nicht nummerierten Scheinen. Geld für ein neues Leben.
Das spanische Pärchen hat die Galerie verlassen. Kate ist allein und sieht sich die Fotos an. Aufnahmen von Wasser, Sand und Himmel, Wasser, Sand und Himmel. Eine unerbittliche Reihe paralleler Linien in Blau- und Brauntönen, Grau und Weiß. Hypnotisierende Linien, Abstraktionen von Orten, so abstrakt, dass man sie kaum noch als Orte bezeichnen kann, sondern lediglich als Form und Farbe.
Strand, denkt Kate. Vielleicht leben wir als Nächstes an einem Strand, irgendwo ganz weit weg.
9
Die Zeitverschiebung und der Stundenplan der Kinder machten es kompliziert, in den Staaten irgendjemanden anzurufen. Den ganzen Vormittag über hatte sie ihre Ruhe und hätte problemlos telefonieren können, doch um diese Zeit schliefen an der Ostküste alle noch oder saßen beim Frühstück. Wenn es in Washington neun Uhr morgens war, musste sie die Kinder abholen, danach spielte sie mit ihnen, kaufte ein, brachte sie zu ihren Spielkameraden oder war im Fitnessstudio. Abends, wenn alles sauber war, das Geschirr abgewaschen und die Jungs frisch gebadet in ihren Betten lagen, war sie völlig erledigt und so müde, dass sie bestenfalls noch den Laptop in den Fernseher einstöpselte und sich auf iTunes alte HBO-Serien ansah.
In ihrer Zeitzone gab es nur einen Menschen, den sie anrufen konnte. Sie wählte die lange Nummer. Bereits beim ersten Läuten wurde abgehoben.
»Hi«, sagte sie. »Mir ist langweilig.« Sie nannte weder ihren eigenen noch seinen Namen. Keine Namen am Telefon. Niemals. »Ehrlich gesagt, war mir in meinem ganzen Leben noch nie so langweilig.«
»Das tut mir sehr leid«, sagte er.
»Ich mache die Wäsche.«
»Das ist doch gut «, meinte er. »Es ist wichtig, dass die Familie immer frisch gewaschene Klamotten hat.«
Kate fiel auf, dass ihre Unterhaltung – Wäsche, langweilig – exakt wie ein kodierter Bericht über eine erfolgreich abgeschlossene Mission klang. »Erzähl mir was Spannendes«, bat sie.
»Was Spannendes? Hmm … lass mich mal überlegen. Kein einziger amerikanischer Präsident ist als Einzelkind aufgewachsen. Alle hatten Geschwister. Und wenn es keine biologischen waren, dann zumindest durch Heirat dazugewonnene.«
Sie kannte Hayden bereits seit Beginn ihrer Laufbahn. Sein ausgeprägter, nach Kiefersperre und Weltüberdrüssigkeit klingender Ostküstenakzent war ihr schon lange nicht mehr so aufgefallen. Niemand in Luxemburg hörte sich so an wie er, nicht einmal die Briten.
»Auf einer Skala von eins bis zehn ist das höchstens eine Vier.«
»Oh, das ist nicht fair. Statistisch gesehen, sind zwanzig Prozent der amerikanischen Kinder Einzelkinder. Aber kein einziger Präsident? Ich bitte dich.«
»Okay, vielleicht eine Fünf«, räumte sie ein
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