Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
»Deshalb sind wir hier.« Und trank einen Schluck Wein. »Das hab ich heute gemacht.«
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Kate starrte aus dem Fenster. Sie ließ den Blick über die Klippe schweifen, über die metertiefe Alzetteschlucht, die hochmoderne Brücke, das alte Eisenbahnaquädukt, die mittelalterlichen Befestigungsanlagen und über die grünen Hügel, hinter denen sich das Kirchbergplateau mit seinen gläsernen Hochhäusern erhob. Der Ausblick war spektakulär.
Dann richtete sie den Blick wieder auf den Computer. Die Webseite von Julia Maclean Interior Design war zumindest gut gemacht. Sehr professionell – stimmungsvolle Musik mit langsam verblassenden Bildern, verschiedenen Schriftarten und banalen Phrasen. Es gab eine Reihe von Fotos hübscher, wenngleich wenig bemerkenswerter Räumlichkeiten. »Vielschichtig traditionell« – so lautete die angestrebte Ästhetik. Was zu bedeuten schien, dass man teuer aussehende amerikanische Antiquitäten mit afrikanischen Holzmasken, chinesischen Stühlen und mexikanischen Keramikvasen kombinierte.
Es gab keine Referenzen, keine Prominenten, die ihre Wertschätzung zum Ausdruck brachten, ebenso wenig wie eine Erwähnung in einer der lokalen Tageszeitungen oder Links zu anderen Veröffentlichungen. Ihre Vita las sich folgendermaßen:
Julia Maclean, geboren in Illinois, studierte auf dem College Architektur und Textilkunde und hat ihren Abschluss an der Kunstakademie im Bereich Inneneinrichtung gemacht. Sie absolvierte eine Reihe von Praktika bei renommierten Innenausstattern, ehe sie den Schritt in die Selbstständigkeit wagte. Während der vergangenen zehn Jahre hat sie sich einen Namen gemacht und wird vor allem für ihren sehr eigenen und zugleich traditionellen Stil geschätzt. Inzwischen gilt Julia als eine der gefragtesten Innenarchitektinnen in und um Chicago, deren Liebe dem Modernismus des Lake Shore Drive ebenso gilt wie dem Traditionalismus des North Shore.
Im Impressum war zwar eine Mailadresse angegeben, jedoch keine Anschrift, Festnetz- oder Faxnummer, ebenso wenig wie die Namen von Mitarbeitern, Kollegen oder Partnern.
So eindrucksvoll die Seite gestaltet war – nirgendwo fand sich ein konkreter Hinweis auf eine reale Person oder Wirkungsstätte.
Kate hatte Webseiten wie diese in der Vergangenheit schon häufig gesehen. Reine Alibiseiten. Scheinexistenzen.
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»Jungs!«, rief Kate und ignorierte ihren Mann für einen Moment. Nein, sie ignorierte ihn nicht, sie reagierte nur nicht auf das, was er sagte. »Frühstück!«
Sie stellte die Crêpes auf den Tisch. Einer war mit Nutella bestrichen, der andere mit Spekulatiuscreme. In diesem Land gab es offenbar keine Tiefkühlwaffeln. Zum Glück hatte sich gezeigt, dass die Kinder äußerst flexibel waren, solange sie nur in irgendeiner Form ihre morgendliche Zuckerration serviert bekamen.
Was ihren innigen Wunsch betraf, ihren Vater jeden Tag um sich zu haben, waren sie allerdings nicht so flexibel. Kate stellte fest, dass ihr die Klagen über seine ständige Abwesenheit ziemlich zusetzten. In ihren Ohren klangen sie wie ein Vorwurf, wie kläglich sie als Mutter versagte. Wenn die Jungs ihn so sehr brauchten, musste das bedeuten, dass sie sie nicht genug liebten. Quod erat demonstrandum.
Rein rational war ihr klar, dass das nicht stimmte. Doch ihr Herz sagte etwas anderes.
»Nein.« Kate wandte sich Dexter zu und starrte ihn mit unverhohlener Wut an. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du auch nur mit einer verdammten Silbe erwähnt hättest, dass du dieses Wochenende nach Sarajevo fliegst.«
Sie versuchte sich zu beruhigen und sich daran zu erinnern, dass seine Geschäftsreisen selten freiwillig waren, falls überhaupt jemals. Diese Reisen waren anstrengend und alles andere als ein Vergnügen. Und Sarajevo war so ziemlich der letzte Ort auf der Welt, den Dexter besuchen wollte. Seit dem Tod seines Bruders hegte er einen tief sitzenden Groll gegen die gesamte Region Exjugoslawiens.
»Tja, tut mir leid, aber ich kann mich erinnern.«
Kate sollte ihm nicht böse sein, weil er wegfuhr und sie mit den Kindern in einem fremden Land allein ließ. Aber sie war es.
»Und wann kommst du wieder?«
Die Kinder setzten sich an den Tisch und starrten auf den Fernseher. In Washington hatten sie keine einzige Folge SpongeBob gesehen. Sie wussten noch nicht einmal, dass es die Serie überhaupt auf Englisch gab. Sie sahen Bob l’Eponge , eine französische Erfindung.
»Am Freitagabend.«
»Und was genau tust du dort? In
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