Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
einfach irgendwas und verpasst Anne-Marie Laroche ein eigenes Sündenregister?
Miessen geht ganz nah an dem Beichtstuhl vorbei, in dem sie kniet, folgt dem Gang zurück in den Kirchenraum und sieht sich die ganze Zeit nervös um, als könnte sich das, wonach er sucht, hinter einer der Säulen verstecken. Der Priester hält ihr einen Vortrag über die Tücken und Gefahren der Unzucht, ihre Wirkung auf Gott höchstselbst. »Bedenke, du gehörst dir nicht«, warnt er. »Du bist teuer erkauft.«
Was wird Miessens nächster Schritt sein? Wird er annehmen, dass seine Beute durch eine der Seitentüren verschwunden ist, oder wird er vermuten, dass sie sich irgendwo im Gebäude versteckt hält? Und wieso in Gottes Namen verfolgt er sie überhaupt?
»Mein Kind?«
»Ja, Père ?«
»Wenn du mit deiner Beichte fertig bist, musst du ein Reuegebet sprechen.«
Sie steht auf. »Danke, Père .«
»Dein Reuegebet, mein Kind. Deine Buße …«
Sie nimmt ihren Koffer. »Es ist keine Buße nötig. Wissen Sie, meine größte Sünde ist nämlich die, dass ich nicht mehr an Gott glaube.«
Sie tritt aus dem Beichtstuhl. Die Kirche wirkt kühl und verwaist, ohne irgendwen von Bedeutung. Sie lächelt die alte Dame an, die nach ihr den Beichtstuhl betritt, und steuert dann auf die Tür mit der Aufschrift Sacristie zu. Ein Korridor führt zu einem Raum mit Schränken und hängenden Priestergewändern und einem schmalen, bunten Kruzifix an der Wand. Sie geht in die Hocke, um ihren Koffer zu öffnen, versucht, alles so ruhig wie möglich zu machen, so sicher und genau, wie sie kann. Hâte-toi lentement , sagte ihre Mutter immer zu ihr, wenn sie ihr nach einem Sturz auf die Beine half und sich um aufgeschürfte Knie kümmerte. Sie holt eine Nagelschere aus ihrem Kulturbeutel und schneidet damit das Futter des Koffers genau zwischen den beiden Scharnieren auf. In dem Versteck befinden sich ein Ausweis und Lebensmittelmarken auf den Namen Laurence Aimée Follette. Sie steckt die Papiere in ihre Umhängetasche, schließt den Koffer und richtet sich genau in dem Moment auf, als jemand hereinkommt, ein Priester in einer abgetragenen Soutane, der sie mit erschrockenem Erstaunen ansieht.
»Für die Flüchtlinge«, sagt sie, ehe er ein Wort über die Lippen bringt. »Ich wusste nicht, wo ich die Sachen abgeben soll.« Sie zieht ihren Mantel aus, faltet ihn zusammen und legt ihn auf den Koffer. »Ich möchte nur helfen, Père .«
Sie lächelt und schiebt sich an ihm vorbei. Am Ende des Korridors führt eine Tür auf die Straße. Tageslicht beträufelt ihr Gesicht mit Nieselregen. Schüler stehen in Grüppchen vor dem Eingang zum lycée auf der anderen Straßenseite, und Laurence Follette schiebt sich durch das Gedränge, eilt dann eine Seitenstraße entlang bis zur Rue de l’Estrapade. Obwohl ihr anscheinend niemand folgt, überquert sie die Straße und biegt dann zweimal rechts ab, um zu dem vertrauten Platz zu gelangen. Auf ihr Klopfen öffnet Marie die Tür, Marie, mit dem strengen Gesicht und der leicht missbilligenden Miene, Marie, die nicht die Verräterin sein kann, weil sie ja schon weiß, wo sie wohnt, und wenn jemand ihr vom Bahnhof aus gefolgt ist, dann doch gewiss in der Absicht, herauszufinden, wo sie in der Stadt untergeschlüpft ist.
Wer ist Julius Miessen? Für wen arbeitet er?
Sie zieht sich in Madeleines Zimmer zurück. Zum ersten Mal hat sie Angst, richtig Angst. Nicht die vorübergehende Angst wie kurz vor einem Fallschirmabsprung oder in der Warteschlange vor der Durchsuchung an einer barrage oder wenn du merkst, dass ein Mann dich durch die Straßen von Paris verfolgt. Nicht Angst vor etwas. Einfach bloß Angst, wie eine Krankheit, eine Geschwulst, die dick und faulig hinter dem Brustbein lauert. Angst in jedem Atemzug und jedem Herzschlag. Angst, die ihr die Speiseröhre hochsteigt und hinten im Mund einen säuerlichen Geschmack erzeugt, sodass sie ständig schlucken muss. Angst, was passieren könnte, was vielleicht genau in diesem Augenblick passiert, wo sie hilflos wie eine Kranke auf dem Bett sitzt.
»Ich geh dann nach Hause, Mademoiselle «, ruft Marie durch die Tür. » Monsieur Clément muss jeden Augenblick da sein.«
Sie lauscht, wie die Schritte der Haushälterin sich über den Flur entfernen und die Wohnungstür auf- und zugeht. Was, so fragt sie sich, mag Marie wohl von alldem hier halten? Geht sie nach Hause und erzählt von der merkwürdigen, angespannten Frau, die bei den Pelletiers aufgetaucht ist und
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