Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
die Monsieur Clément mit offenen Armen willkommen geheißen hat? Ist sie geschwätzig? Spricht sie mit allen möglichen Leuten über die arme Madame Pelletier und ihr süßes Baby und fragt sich laut, was zum Teufel los ist, was um Himmels willen Monsieur Clément da eigentlich treibt? Dringen ihre Worte durch das verworrene Gefüge der Stadt und erreichen die Ohren der Polizei oder der Abwehr oder der Gestapo?
Sie sucht in der Küche nach Streichhölzern, und als sie sie gefunden hat, vollführt sie feierlich die Einäscherung der jungen Studentin Anne-Marie Laroche.
II
Laurence Follette aus Bourg-en-Bresse im Département Ain bewohnt jetzt das Zimmer in der Wohnung der Pelletiers. Laurence. Leicht androgyn, wie so viele französische Vornamen, vielleicht symbolisch für eine tief sitzende Uneindeutigkeit im Herzen der Franzosen, die einst vehemente Verfechter von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit waren, aber jetzt Arbeit, Familie, Vaterland proklamieren; ein Volk, dem ein und dasselbe Wort, baiser , für küssen und vögeln genügt.
Laurence wartet. Sie wartet auf Clément, wie eine Patientin, die ihre Krankheit pflegt und auf den Arzt wartet, der ihr wenigstens ein Mittel zur Linderung ihrer Schmerzen anbieten könnte. Das Geräusch der sich öffnenden Wohnungstür löst eine Welle der Erleichterung aus, eine Erleichterung, die ihr offenbar ins Gesicht geschrieben steht, als sie in die Diele geht, um ihn zu begrüßen, denn nachdem er sie umarmt und ihr gesagt hat, wie er sich freut, sie wiederzusehen, und wie sehr er sie vermisst hat, hält er sie auf Armeslänge von sich und sieht die kalte Angst, die ihr im Gesicht steht. »Ist alles in Ordnung, Äffchen? Was ist los?«
»Mir geht’s gut. Bloß …« Was soll sie sagen? Beichte oder Verschleierung? »Jemand ist mir gefolgt. Ich glaube, vom Bahnhof aus. Ich hab ihn abgeschüttelt, aber er weiß, dass ich in der Stadt bin. Sie wissen es.«
»Wer?«
Sie zuckt die Achseln. »Keine Ahnung. Ich bin ihm schon mal begegnet. Er hat mich auf der Straße angequatscht, als ich das erste Mal nach Paris kam. Ich hab gedacht, er ist ein Zuhälter oder so. Aber jetzt frage ich mich, ob er vielleicht für die Polizei arbeitet, oder die Deutschen. Wer weiß? Jedenfalls, jetzt können sie sich denken, dass ich hier irgendwo in der Gegend untergeschlüpft bin, im Quartier Latin.«
Sie setzen sich in die Küche, den Raum, der der wärmste in der Wohnung zu sein scheint. Der sauber gewischte Tisch ersetzt die Barrieren, die die Angst zwischen ihnen eingerissen hat. Er öffnet eine Flasche Wein, einen Romanée-Conti, von dem er sagt, dass seinem Vater die Tränen kämen, wenn er sähe, wie sie ihn trinken. »Und wie geht’s jetzt weiter?« Sein Ton hat sich verändert, als wäre er nun irgendwie Teil dessen, was sie macht.
Sie schüttelt den Kopf. »Irgendwer weiß, dass ich hier bin. Ich bin eine Gefahr, Clément, und nicht nur für mich selbst. Ich bin eine Gefahr für dich.«
Er lächelt. Sie kann sehen, was er sagen wird. Es liegt im Grunde auf der Hand. Und dieses Wissen weckt in ihr den Wunsch, zu weinen und gleichzeitig zu lachen. »Du warst schon immer eine Gefahr für mich, Äffchen. Seit ich dich das erste Mal gesehen hab.«
»In England wärst du vor mir in Sicherheit.«
»Die Art von Sicherheit würde ich nicht wollen. Ich würde dich bei mir haben wollen.«
Sie blickt auf. Sie denkt an den Patron und an Benoît, an all die Leute, die vom Ring abhängig sind – Gaillard und Marcel und all die Résistancekämpfer, aus denen WORDSMITH besteht. Gabrielle Mercey und die Familie in Plasonne. Sie könnte einfach aus dieser Welt verschwinden. Ohne auch nur Lebewohl zu sagen. »Wärst du bereit, nach England zu gehen, wenn ich mitkäme?«
Er macht eine kleine gleichgültige Geste. »Madeleine hat mich gestern angerufen. Die Enten sind ausgeflogen, hat sie gesagt. Das hört sich an wie eine von diesen Meldungen, die sie im Radio senden.«
Sie versucht zu lächeln, als wäre das ein Trick, den sie vergessen hat und neu lernen muss. »Was bedeutet das?«
»Das ist mein Kosename für Augustine. Mon petit canard . Die Enten sind sie und Rachel. Das bedeutet, sie haben es über die Grenze in die Schweiz geschafft. Ich hab also keinen Grund mehr, in Frankreich zu bleiben, oder? Und wenn du mitkommen würdest …«
Am Abend geht sie wieder aufs Dach und schickt einen Funkspruch hinaus in die wilde Herbstluft, so schnell sie kann, so knapp und deutlich sie kann.
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