Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
in dem schattigen Kirchenraum, umhüllt vom Geruch des Weihrauchs und von Verschleierung, aber für einen Moment frei. Dreißig Sekunden, schätzt sie, vielleicht weniger. Die Kunst besteht darin, den Beschatter abzuschütteln, ohne den Eindruck zu erwecken, dass du ihn bemerkt hast. Knifflig. Sie blickt sich um, sieht rötlich leuchtendes Buntglas, flackernde Kerzen und die Schattenbewegungen von Menschen bei der Andacht.
Zwanzig Sekunden.
Der Kirchenraum ist durch einen Lettner quer geteilt, ein kunstvolles Gebilde aus gewundenen Formen und Bögen. Sie eilt den Seitengang hoch und durch eine Tür in den Altarraum. Rechter Hand sind Seitenkapellen, und in einer von ihnen steht ein vergoldeter Sarkophag mit flackernden Kerzen und der Inschrift: Sainte Geneviève Ora Pro Nobis . Eine alte Frau kniet betend vor dem Reliquienschrein der Heiligen.
Zehn Sekunden.
Der Gang verläuft im Bogen hinter den Hochaltar. Weiter vorn führt eine Tür in die Sakristei, und ein Stück weiter, um die Biegung herum, versteckt in einer dunklen Nische, ist ein Beichtstuhl. Die Sakristei ist zu offensichtlich. Sie geht zu dem Beichtstuhl, zieht den Vorhang beiseite, schiebt ihren Koffer hinein und zwängt sich hinterdrein. Eine muffige Dunkelheit, die nach Qual und Schuld riecht, hüllt sie ein. Sie hält den Vorhang so, dass sie hinausspähen kann. Wie ein kleines Mädchen, das sich beim Versteckenspielen hinter Vorhängen verkrochen hat. Die atemlose Erwartung, eine Mischung aus Angst und gespannter Erregung.
Neben ihr gleitet ein Schiebefenster auf. »Ja, mein Kind?«
Erinnerungen kommen durch die Öffnung geströmt – ihre Klosterschule, die Verpflichtung zur Beichte und Buße, das verhasste Schuldgefühl. Auf der anderen Seite des filigranen Metallgitters schwebt schattenhaft das Gesicht des Priesters. »Oh, ich dachte …« Was hat sie gedacht? Was soll sie sagen? Durch die Lücke im Vorhang sieht sie, wie die alte Frau, die am Schrein der heiligen Geneviève gebetet hat, aufsteht und sich vor dem Beichtstuhl anstellt. Gleich hinter ihr kommt der Mann um die Biegung der Apsis und blickt sich suchend um.
»Segne mich, Père , denn ich habe gesündigt.«
»Wann war deine letzte Beichte, mein Kind?«
Einen Moment lang verharrt der Mann unschlüssig am Grab der Heiligen. Er hält seinen Hut jetzt vor der Brust, und sie kann sein Gesicht im Kerzenlicht sehen. Und sie kennt ihn. Es ist der Mann, der sie damals angesprochen hat, der ihr aus dem Bahnhof ans Ufer der Seine gefolgt ist, als sie das erste Mal nach Paris kam.
»Vor Jahren. Vier, vielleicht fünf.«
»Schon das allein ist eine Sünde, mein Kind.«
Was soll sie sagen? Sie hält den Vorhang fest und beobachtet den Mann. Wie ist noch mal sein Name? Miessen. Vielleicht hat sie seine Karte noch irgendwo in ihrer Tasche. Julius Miessen. Deutscher? Holländer? Franzose? Wer ist er?
»Was hast du sonst noch zu beichten, mein Kind?«
»Beichten?« Sie zögert. Unkeusche Handlungen, so hatten sie das in der Schule genannt. Ich habe unkeusche Handlungen begangen. Und der Priester fragte dann genau nach, was das für unkeusche Handlungen gewesen waren.
»Welcher Art waren die Handlungen?«
Der Mann verschwindet in der Sakristei. Klar, dass er dort nachschaut: die offene Tür, das Licht, das herausfällt, die Möglichkeit von Räumen und Korridoren und eines weiteren Ausgangs. Soll sie jetzt gehen, solange er außer Sicht ist? »Ich habe mich berührt, Père .«
»Wie oft, meine Tochter?«
»Wie oft ich mich berührt habe? Keine Ahnung. Ich führe kein Tagebuch. Und ich war mit einem Mann zusammen. Vielleicht ist das ja noch wichtiger.«
Die Stimme flüstert weiter, ruhig, duldsam, sanftmütig, unbeeindruckt durch Ironie. »Wie oft hast du das getan?«
»Zweimal.«
»Mit demselben Mann?«
»Selbstverständlich.«
Miessen taucht wieder vor der Sakristeitür auf. Er wirkt jetzt panisch, blickt hektisch hin und her, und sein markantes Gesicht hat in dem Licht, das durch die Obergadenfenster fällt, etwas Abstoßendes. Irgendetwas rührt sich tief in ihr, das Zusammenfließen von Angst und Triumph.
»Und liebst du diesen Mann?«
Liebt sie ihn? Sie weiß es nicht. Sie weiß nicht mal, was Liebe ist. Angst dagegen kennt sie nur zu gut. Angst erkennt sie. Und Hass. Aber Liebe? »Ich mag ihn sehr gern«, flüstert sie, »und vielleicht liebt er mich, ich weiß es nicht. Wir … passen irgendwie zueinander.« Wieso erzählt sie dem Priester das? Wieso erfindet sie nicht
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