Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Schweiß und Gras, ein derber Geruch, der sie an den Hof in Plasonne erinnert: etwas Seltsames, aber gleichzeitig Tröstliches. Und was geschieht, ist nicht heimlich und leise und verwirrend wie beim ersten Mal, sondern es setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen: Schock und Lust, die Erregung körperlicher Liebe und, für einen kurzen Moment, das seltsame Verlöschen des eigenen Ich in diesem Glutofen verschmolzener Existenzen.
»War es in Ordnung?«, fragt er, als sie wieder nebeneinanderliegen.
Sie versteht die Frage nicht. Das klingt, als könnte man über das, was sie getan haben, nachdenken und es üben und gut oder schlecht hinbekommen, wie Tennisspielen oder Schwimmen. »Natürlich war es in Ordnung. Es war sehr in Ordnung.«
»Und du bist nicht mehr böse auf mich?«
»Ich war nie böse auf dich. Es waren die Umstände. Der falsche Ort zur falschen Zeit.«
»Und jetzt?«
Sie liegt mit dem Kopf in seiner Armbeuge und schaut zu ihm hoch. »Der richtige Ort und die richtige Zeit, schätze ich. Jedenfalls fürs Erste.«
»Was ist mit Paris?«, fragt er. »Was ist in Paris passiert?«
Sie lacht, ein schwaches Lachen, bloß ein Aushauchen von Luft. »Du weißt, dass ich dir das nicht sagen kann. Ich kann dir gar nichts sagen.«
PARIS
I
Diesmal geht sie nicht aus dem Bahnhof, um einen Blick auf den Fluss zu werfen. Diesmal hat sie ein Ziel und einen Vorsatz – und Selbstvertrauen. Paris birgt keine neuen Gefahren. Und sie spürt noch immer den Schauder der Verfehlung, das Wissen um Benoît in ihr, die erschreckende Ungeheuerlichkeit des Aktes und die Freude. Hat er ihr den Geist von Clément ausgetrieben? Ist er der Mann, den sie lieben könnte? Vielleicht haben die vielen Gedanken sie abgelenkt, denn erst als sie aus der Métrostation Maubert-Mutualité ans Tageslicht kommt, merkt sie, dass sie verfolgt wird.
Wut überlappt sich mit Furcht. Wo ist er so plötzlich hergekommen? Wieso hat sie ihn nicht schon früher gesehen? Wer ist er? Wer hat ihn geschickt? Mehr Fragen als Antworten.
Sie biegt vom Boulevard in eine Seitenstraße, die mit leichter Steigung Richtung Rue des Écoles und zum Panthéon mit seiner prächtigen Kuppel führt. An einem Antiquariat bleibt sie stehen und zieht aus einem der Kästen vor dem Laden einen Fotoband. Das Buch zeigt Pariser Szenen vom Anfang des Jahrhunderts, einer Zeit, als die Stadt hoffnungsvoll und heiter wirkte, etwas Wunderbares, geschaffen aus Silber und Platin statt wie heute aus unedlem Metall. Im Spiegelbild der Schaufensterscheibe kann sie ihren Verfolger auf der anderen Straßenseite sehen, wo er mit dem Rücken zu ihr steht und sich etwas in einem anderen Schaufester ansieht, eine schmächtige Gestalt, den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut ins Gesicht gezogen.
Sie spürt, wie ihr speiübel wird. Französische Polizei? Abwehr? Gestapo? Die Stadt ist von Spionen durchsetzt wie Roquefortkäse von Schimmel.
»Das waren noch Zeiten, was, Mam’selle ?«, sagt der Buchhändler, als sie den Band wieder zurücklegt. »Die werden wir wohl nicht mehr erleben.«
Sie lächelt und bestätigt, dass er wahrscheinlich recht hat. Dann geht sie weiter, versucht, zu schlendern, versucht, möglichst entspannt zu wirken, eine Frau allein in der Stadt, verfolgt von einem Mann. Wieder bleibt sie vor einem Schaufenster stehen – ein paar Eisenwaren, eine Nähmaschine, eine Stehleiter, die vielleicht zur Auslage gehört, vielleicht aber auch nicht – und beobachtet, wie ihr Verfolger im Spiegelbild milchig auf sie zugeschwommen kommt, dann stoppt, um sich einen Schuh zuzubinden. Er bleibt gebückt, scheint Schwierigkeiten zu haben, während sie Dinge betrachtet, die sie nicht haben will. Sie geht weiter, schneller jetzt, damit er Mühe hat, mit ihr Schritt zu halten.
Am Ende der Straße öffnet sich der große Platz, in dessen Mitte das Panthéon, dieser Tempel für keinen Gott, wie ein massiger Klotz thront. Sie sieht sich rasch um, versucht, nachzudenken, versucht, ruhig zu bleiben. Zu ihrer Rechten erstreckt sich die lange Fassade der Bibliothèque Sainte-Geneviève, vor deren Eingang ein paar Schüler herumlungern. Linker Hand steht die Église Saint-Étienne-du-Mont mit ihrer architektonischen Melange. Sie hält sich links und überquert das holprige Pflaster Richtung Kirche, versucht, nicht zu hasten, versucht, wie eine junge Frau zu wirken, die spontan beschlossen hat, ein Gebet zu sprechen. Sie schlüpft durch einen Ledervorhang und steht unvermittelt
Weitere Kostenlose Bücher