Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Ich wurde beschattet, möchte sie schreiben. Jemand weiß, dass ich in der Stadt bin. Die Stadt selbst beobachtet, lauert, die Peilwagen lauschen auf das kleinste Anzeichen von mir. Die Wölfe umkreisen mich, schnüffeln in der Luft, lechzen nach Blut. Diese Nachricht – sie lauschen auf diese Nachricht. Aber sie sendet nur:
MECHANIKER IST BEREIT
Sie weiß, was sie in Grendon denken werden, wenn sie den Text entschlüsseln, und in den Büros auf der Baker Street, wenn er aus dem Fernschreiber tickt: Alice gewinnt. Aber das stimmt nicht: Sie hat Panik. Und wenn du in Panik gerätst, ertrinkst du.
Sie schaltet den Sender aus. Die dünne Rettungsleine mit England ist gekappt. Sie packt das Funkgerät ein und trägt es nach unten, strampelt sich ab, um über Wasser zu bleiben, redet mit sich selbst, beruhigt sich, versucht, das klare Licht der Morgendämmerung in der abendlichen Dunkelheit zu sehen. Angst ist wie die Gezeiten des Meeres, unter dem Einfluss des zunehmenden Mondes. Sie kann die Hand der Schwerkraft spüren, den elementaren Sog, der ihr das Blut aus dem Gesicht zieht, aus dem Körper. Die Mondphase. Was hat sie vor einer halben Ewigkeit zu Benoît gesagt, damals in Oxford? Wir sind Günstlinge des Mondes. Günstlinge, Sklaven, Anbeter. Sie nimmt die Pistole aus dem Ersatzteilfach des Funkgerätkoffers und steckt sie in ihre Umhängetasche. »Nächsten Samstag ist Vollmond, wir fliegen also irgendwann diese Woche«, sagt sie zu Clément. »Wann genau, erfahre ich morgen.« Sie spürt, wie matt ihr Lächeln ist. »Ich möchte in Sicherheit sein, bloß für ein paar Minuten. Ich möchte in Sicherheit sein. Es ist so verdammt anstrengend, die ganze Zeit Angst zu haben.«
III
Das Café in der Rue Saint-André des Arts ist genau wie beim letzten Mal. Klein, trist, belanglos. Soweit sie sehen kann, ist ihr niemand gefolgt. Sie schlendert vorbei, macht dann kehrt und geht hinein, spürt das Gewicht der Pistole in ihrer Tasche, in der Tasche von Madeleines Mantel, den sie sich ausgeliehen hat, einen mit Hahnentrittmuster und dem Namen Molyneux auf dem Etikett. Der Mann an der Bar, ein anderer als bei ihrem letzten Besuch, schaut mit dem gleichen Desinteresse auf.
Ist die Patronne da? Er zuckt die Achseln und ruft über die Schulter – »Madame Julienne! Hier will Sie wer sprechen« –, und die Tür hinter der Bar geht auf, und da ist sie. Claire. Sie blickt besorgt, sie blickt misstrauisch, setzt nur ein schwaches Lächeln des Wiedererkennens auf. »Kommen Sie«, sagt sie. »Kommen Sie hier herein.«
Claires kleines Zimmer ist unverändert: dieselben Bilder, derselbe Kalender mit denselben Namen bei denselben Daten. Woran erkennt man einen Verräter? Was sind die Anzeichen für Verrat? Wie sehen die Gesichtszüge für Heimtücke aus? Claire ist forsch und sachlich, wie eine Reisebürofrau, die eine ungewöhnliche, aber nicht ganz unbekannte Route verkauft hat. »Es ist alles für übermorgen vorbereitet, vorausgesetzt, das Wetter spielt mit. Die Einzelheiten erfahren Sie von Gilbert.«
Gilbert. Sie erinnert sich an das seltsame, unkonkrete Gespräch in dem Büro mit Blick auf den Portman Square, an den groß gewachsenen und hölzernen Colonel mit seinem noch größer gewachsenen Vorgesetzten. Jill Bär ist unser Mann für Landeoperationen im Pariser Raum. Das Ganze war ihr damals wie eine Fantasiegeschichte vorgekommen, wie etwas, das nie wirklich passieren würde. Und jetzt passiert es – Gilbert erwartet sie. Sie soll sich mit ihm im Jardin des Tuileries treffen, auf der anderen Seite des Flusses. Sie soll zu einer bestimmten Uhrzeit dort sein, am kreisrunden Wasserbecken im Grand Carré, neben der Kain-Skulptur. Der exakte Ort zur exakten Zeit. Sie muss unbedingt pünktlich sein.
»Sie kennen doch den Park, oder?«
»Natürlich.«
Und es gibt eine Art Losung für das Treffen, ein kleines Frage-und-Antwort-Spiel. Sie und Claire proben es. »Prägen Sie sich alles Wort für Wort ein. Er ist bei so was sehr genau.«
»Ich krieg das schon hin.« Sie nimmt die Hand aus der Tasche und streckt sie aus.« Danke«, sagt sie. An der Tür bleibt sie stehen, als wäre ihr noch etwas eingefallen. »Warum machen Sie das?«
Claire blickt verwirrt. »Warum mache ich was?«
Alice deutet in Richtung Bar, meint aber in Wahrheit alles, die Planung, die Gefahr, die Schulterblicke, die ständige Vorsicht, die ganze albtraumhafte Beklemmung des Lebens im Verborgenen. Angst ist eine ätzende Säure, die alles
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