Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Ein Stück des Weges schließt sie sich zwei jungen Frauen an, die südlich von Paris in Issy wohnen und nicht wissen, wie sie jetzt nach Hause kommen sollen. Sie spekulieren, was passiert sein könnte. Stromausfall ist eine Möglichkeit, aber das erklärt nicht die vielen Militärfahrzeuge. »Irgendwas ist immer«, schimpft eine der beiden. »Vielleicht geht’s wieder um die Juden. Ich meine, es sind immer noch Hunderte in der Stadt. Und wenn es nicht um die Juden geht, dann um die Kommunisten.«
Sobald sie auf der anderen Flussseite sind, trennt Alice sich widerstrebend von ihnen, willigt aber ein, sich demnächst mal mit ihnen zu treffen, und notiert die Telefonnummer von einer der beiden. Sie sieht sie ungern gehen. Kaum ist sie wieder allein, packt sie die Angst, eine Angst, die nur teilweise abklingt, als die Tür der Wohnung an der Place de l’Estrapade sich endlich hinter ihr schließt.
»Du siehst ja völlig fertig aus«, begrüßt Clément sie. »Wo warst du denn? Und wo zum Teufel hast du diesen Mantel her? Hattest du nicht einen von Maddy an?«
Sie löst sich aus seiner Umarmung und zündet sich mit zittrigen Händen eine Zigarette an. »Den musste ich weggeben.«
»Da wird sie sich aber freuen.«
»Die hätten mich fast erwischt, Clément. Die hatten mich in Belleville eingekesselt …«
»Was zum Teufel hast du denn in Belleville verloren? Das ist ein Elendsviertel.«
»Ich hab mich mit Yvette getroffen.«
»Und wer, verdammt, ist diese Yvette?«
»Yvette«, wiederholt sie, als wäre das Erklärung genug. »Yvette. Ich hab mich mit ihr getroffen, und sie hätten mich fast geschnappt.« Sie blickt sich um, sieht auf die Uhr, sucht nach irgendeiner Ablenkung. Es gibt Dinge zu tun, Vorbereitungen zu treffen, Entscheidungen zu fällen; alles, nur nicht nachdenken. »Das Radio. Radio Londres . Wir müssen wissen, ob die Rückführung läuft.«
Er führt sie in den Salon, gießt ihr ein Glas Wein ein, versucht, sie auf eines der unbequemen Sofas zu bugsieren. »Wir haben noch Zeit. Erzähl mir erst, was passiert ist.«
Aber sie kann sich nicht hinsetzen. Hinsetzen würde Untätigkeit bedeuten, und sie kann nicht still sitzen, nicht jetzt. Im Hintergrund sind Stimmen, schrille, wütende Stimmen, die Worte plappern, die nicht ganz zu verstehen sind, wie ein lauter Streit in einem anderen Zimmer. Sie versucht, ihn anzusehen, aber auch das gelingt ihr irgendwie nicht, sie kann nichts länger anschauen, kann sich auf nichts konzentrieren, kann ihren Verstand zu keinem einzigen Gedanken zwingen, und hinsetzen kann sie sich schon gar nicht. »Meinst du wirklich, dass Madeleine böse sein wird wegen des Mantels?«
Er lacht. »Maddy? Würde mich wundern, wenn sie es überhaupt merkt.«
Madeleine wird nicht böse sein. Das ist eine wohltuende Erleichterung. Sie hält inne, um auf die Stimmen zu lauschen. Aber der gesunde Teil ihres Verstandes ist noch da, ringt um die Vorherrschaft. Du bildest dir Sachen ein, sagt er ihr. Das ist die Anspannung. Hysterie. Sie zieht an ihrer Zigarette, spürt den beißenden Rauch in der Lunge und blickt sich um, auf der Suche nach irgendeiner Beschäftigung. Die Zigarette. Sie konzentriert sich auf die Zigarette, darauf, den Rauch einzuatmen und wieder auszustoßen. Das genügt fürs Erste. Das und der Versuch, nicht auf die Stimmen zu achten.
»Du hast mir noch nicht erzählt, was passiert ist, Marian.«
»Ich habe jemanden getötet.« Sie sagt das leise. Vielleicht hört er dann nicht, was sie gesagt hat. Würde es die Beichte ungültig machen, wenn der Priester sie nicht richtig gehört hat? Aber er hat sie gehört. Er steht da und blickt sie fassungslos an. »Du hast was ?«
Sie dreht den Kopf weg. »Ein oder zwei Männer. Vielleicht beide. Ich weiß es nicht genau. Doch, ich bin sicher. Beide.«
Er beugt sich vor, legt die Hände auf ihre Schultern und versucht, ihr in die Augen zu sehen, als könnte er darin die Wahrheit lesen. » Zwei Männer? Was um Himmels willen meinst du damit?«
Ist das nicht klar genug? Sie hat Menschen getötet. Genau das scheinen die Stimmen zu sagen. Sie murmeln, nahezu unhörbar, sodass sie nicht sicher ist, ob sie überhaupt da sind: Sie hat zwei Männer getötet. Töten ist etwas, das in diesen Zeiten scheinbar fast alle tun, bloß dass sie es meistens aus größerem Abstand tun – eine Bombe abwerfen, eine Granate oder einen Torpedo abfeuern oder auch nur an einem Labortisch sitzen und Waffen konstruieren. Sie jedoch hat es genau
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