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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mawer
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blickt von dem Platz aus auf die fünf anderen Straßen, die an ihm zusammenlaufen. Dünne Häuserscheiben, wie schmale Käsestücke, zerteilen sie. Unter dem Schild mit der Aufschrift Rue des Envierges hat jemand Hammer und Sichel auf die Hauswand gemalt, ob per Zufall oder mit Absicht beides bluttriefend, und daneben steht Front National . Fühlt sie sich dadurch angelockt? Jedenfalls rennt sie, so schnell sie kann, in diese Straße hinein und dann immer weiter, ohne zu merken, wie ihr Herz rast und die Lunge keucht. Am Ende der Straße ist es hell, und durch eine Lücke zwischen den Häusern offenbart sich ihr mit einem Mal ein weiter Ausblick auf die ganze Stadt. Die Aussicht lässt sie verharren. Die Wolken sind aufgebrochen, und ein wässriges Abendsonnenlicht fällt schräg über das Dächermeer, spiegelt sich in vereinzelten Fenstern, verleiht allem einen trügerischen Glanz. In der Ferne ragen der Eiffelturm auf und die Kuppel des Invalidendoms, Symbole eines idealen Paris; aber die Wirklichkeit ist ganz nah, und sie ist schäbig und trist. Der Boden fällt steil ab von dieser Anhöhe, die vielleicht mal ein Hügel auf dem Lande war, aber jetzt ein städtischer Abgrund geworden ist, an den sich verfallende Mietshäuser klammern.
    Einen Moment lang zögert sie. Etwas in ihr wallt auf, brodelt direkt hinter dem Brustbein, etwas Saures und Aufdringliches. Sie beugt sich vor, würgt, keucht, spuckt Speichel und bitteren Schleim aus ihrem tiefsten Innern. Und doch bleibt ein kleiner Teil ihres Verstandes die ganze Zeit über kalt und objektiv, beobachtet sie mit einigem Abstand, als wäre er losgelöst von all diesen Gefühlen. Die werden den Hügel umzingeln, sagt sie sich. Und sobald sie die beiden Toten entdecken, setzen sie Truppen ein. Die werden dich jagen, sämtliche Auswege abriegeln, die Métrostationen bewachen, dich in die Enge treiben wie eine Kanalratte. Du hast höchstens noch ein paar Minuten.
    Und wo ist Miessen? War er wirklich da, oder ist er zu einem Produkt ihrer Fantasie geworden? Sie saugt tief Luft ein und wartet, bis die Übelkeit abklingt. Der objektive Verstand ist jetzt lauter, ihr Denken klarer. Die Pistole ist eher eine Gefahr als ein Vorteil. Der Rinnstein zu ihren Füßen mündet in ein Abflussrohr. Sie holt aus und wirft die Waffe so weit sie kann in die Dunkelheit. Dann macht sie sich auf den Weg bergab, über bröckelnde Stufen und durch steile, gewundene Gassen, folgt einfach ihrem Instinkt, weiß, dass sie früher oder später auf den Boulevard treffen wird, der am Fuße des Hügels verläuft, und dass sie dort auf sie warten. Es sind nur wenige Menschen unterwegs. Viele Häuser scheinen verlassen, die Fenster leer, die Türen offen. Wäsche hängt an Leinen wie Fähnchen zur Feier eines längst vergessenen Sieges. Eine Frau steht an einer Tür, die Arme vor der Brust verschränkt, den Mund angewidert nach unten gezogen.
    »Wieso die Eile?«, ruft sie. »Es ist längst zu spät.«
    Ihr Gelächter verfolgt Alice noch ein Stück weiter. Längst zu spät? Unten am Hügel schnüffelt ein Hund mutlos an einem Abfallhaufen und schleicht sich davon, als sie näher kommt. Aus einer Seitenstraße kommt ein Handkarren gerumpelt, der ihren Weg kreuzt und sie zum Stehenbleiben zwingt.
    Hinter einem Berg gebrauchter Kleidung späht ein alter Mann hervor. Er ist runzelig wie eine Walnuss und trägt eine Wollmütze auf dem Kopf, und bei seinem Anblick muss sie an die Schinderkarren denken, die während des Großen Terrors durch die Stadt rollten. Das hier ist ein neuer Terror, mit neuen Mythen und neuen Albträumen.
    »Ich möchte einen von Ihren Mänteln«, sagt sie. »Ich tausche ihn gegen meinen.«
    Er mustert sie von oben bis unten, kaut auf der Innenseite seiner Lippen. »Was hab ich davon?«
    »Der ist von Molyneux.«
    »Wieso willst du ihn dann loswerden? Ist der geklaut oder was?«
    »Und ich leg tausend Francs obendrauf, wenn Sie mir eine Baskenmütze dazugeben.«
    Eintausend? Das Geschäft ist perfekt. Sie kramt in ihrer Umhängetasche, reicht ihm das Geld, schnappt sich den ersten Mantel, der ihre Größe haben könnte, und zieht ihn an. Der Stoff riecht nach Feuchtigkeit, nach Schweiß, nach Alter, nach Verfall und Verzweiflung. Wer hat ihn vorher getragen? Irgendeine Jüdin wahrscheinlich. Der Markt ist überschwemmt mit jüdischer Kleidung. Sie holt die kleine Kapsel mit der Giftpille aus Madeleines Manteltasche und steckt sie in den neuen Mantel. Dann legt sie Maddys Mantel auf

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