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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Mawer
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den Karren und schiebt ihn tief unter andere Sachen.
    »Die Mütze?«
    Der alte Mann wühlt in dem Kleiderhaufen, fischt einen Pfannkuchen aus schwarzem Filz heraus und wirft ihn ihr zu. Die Baskenmütze aufzusetzen kostet sie die größte Überwindung. Was würde ihre Mutter dazu sagen? Läuse, Flöhe, Krätze, all die krabbelnden Parasiten, die man sich einfangen könnte. Sie zieht sich die Mütze über den Kopf und steckt ihr Haar darunter. »Das beste Geschäft, das Sie heute machen«, sagt sie zu ihm, und er zuckt gleichgültig die Achseln und rumpelt übers Pflaster davon. Vorsichtig, wie ein kleines Tier, das auf bedrohliche Geräusche von großen Räubern lauscht, nähert sie sich dem Ende der Straße und blickt nach rechts und links.
    Der Boulevard de Belleville ist mit herbstlichen Bäumen gesäumt und so breit, dass er Platz für zwei Fahrbahnen bietet und für einen Streifen in der Mitte, der früher vielleicht mal begrünt und mit Bänken versehen war, auf denen abends alte Leutchen saßen, der jetzt jedoch nur noch mit verdrecktem Schotter bestreut ist. Auf beiden Seiten der Straße reihen sich triste Marktstände aneinander. Es sind nicht viele Kunden zu sehen, und die wenigen, die da sind, sind alle stehen geblieben und schauen zu einem fünfzig Meter entfernten Armeelaster hinüber, von dem gerade ein Trupp Soldaten springt. Schon wieder eine rafle? Trillerpfeifen schrillen. Noch mehr Fahrzeuge kommen. Stacheldrahtsperren werden auf dem Bürgersteig errichtet, verwandeln den Boulevard in eine Demarkationslinie. Aus einem Kübelwagen knistert ein Funkgerät, während ein Unteroffizier Befehle bellt. Die Leute hinter den Marktständen starren, fragen sich, was los ist, wer verhaftet, wer durchsucht werden wird, ob sie nicht lieber zusammenpacken und nach Hause gehen sollen.
    Alice weicht zurück, außer Sicht. Die Zeit rast jetzt, zwingt sie, eine Entscheidung zu fällen. In wenigen Augenblicken werden die Soldaten in die schmalen Straßen ausschwärmen. Kann sie sich durchschwindeln? Sie suchen nach einer Frau mit langen, blonden Haaren und einem Mantel mit Hahnentrittmuster. Vielleicht kennen sie sie als Anne-Marie Laroche. Vielleicht, wenn Yvette gesungen hat, kennen sie sie als Marian Sutro. Vielleicht also sind sie gar nicht interessiert an Laurence Aimée Follette aus Bourg-en-Bresse, mit dem tristen braunen Mantel und der schwarzen Baskenmütze. Vielleicht kann sie einfach zu der Sperre spazieren und ihren Ausweis zeigen und wird durchgewinkt.
    Aber sie hat nur diese eine Chance, nur diesen einen Würfelwurf, von dem ihr Leben abhängt. Daher zaudert sie, hält den Würfel fest, sammelt all ihren Mut für den Wurf.
    In diesem Moment sieht sie die Kinder. Sie sind hinter ihr, kommen aus einer Kirche, gehütet von zwei Nonnen mit breiten, steifen Kopfbedeckungen. Eine Schar kleiner Jungs in Holzschuhen, die auf dem Pflaster klappern, kommt um die Ecke auf sie zu. Es sind etwa drei Dutzend, und eigentlich sollten sie paarweise gehen, aber mit der Disziplin ist es nicht weit her – sie schubsen und drängeln, laufen immer wieder vom Bürgersteig auf die schmale Straße. Wo wollen sie hin?, fragt sie sich.
    »Rue Timbaud«, erwidert eine der Nonnen auf ihre Frage. »Das Waisenhaus der Filles de la Charité.« Sie hat ein fahles Teiggesicht und verströmt den Duft von Heiligkeit, muffig und leicht parfümiert, als ob sie den Großteil ihres Lebens in der Nähe von Kerzen- und Weihrauch zugebracht hat. Alice erinnert sich an den Geruch und an das Aussehen, eine Welt, in der Sauberkeit mit Frömmigkeit gleichgesetzt wird, wo Gesichter und Fußböden mit derselben Entschlossenheit geschrubbt werden.
    »Da vorne ist eine barrage .«
    »Eine barrage? « Panik weitet die Augen der Nonne. »Wir müssen die Kinder nach Hause bringen. Die können nicht warten.«
    »Wahrscheinlich suchen sie jemanden. Gut möglich. Wissen Sie was? Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen.«
    Die Nonne lächelt. Alice lächelt. »Ich bin Laurence«, sagt sie, hebt einen der aus der Reihe tanzenden Jungs auf den Arm und geht mit ihm bis ganz an den Anfang der Schlange. »He, Kinder«, ruft sie, »jetzt wollen wir doch mal sehen, ob wir richtig marschieren können. Können wir marschieren wie Männer? Links, rechts, links, rechts, Arme gestreckt. Schaffen wir das?«
    »Frauen marschieren doch gar nicht«, mault einer der Jungen.
    »Ich wohl.«
    »Bist du Soldatin?«
    »Und ob ich das bin.« Und als wollte sie es beweisen, schreitet sie

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