Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Kowarski?
»Wovor hast du Angst, Marianne?«, fragte Benoît. »Vor dem, was wir machen, vor unserem Einsatz in Frankreich, vor alldem? Ich sage dir, du brauchst keine Angst zu haben! Das wirst du sehen, wenn du dort bist. Es ist bloß … Frankreich. Von Menschen besetzt, die wir hassen. Wenn du dort bist, wirst du mehr Wut als Angst empfinden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Darum geht’s nicht.«
»Worum dann? Ich glaube«, sagte er und zögerte. »Ich glaube, du hast einen anderen Mann.«
»Einen anderen Mann?« Sie lachte. »Nein, bestimmt nicht.«
»Ich glaube dir nicht.«
»Es hat da mal …«
»Na bitte«, sagte er, als würde er plötzlich verstehen, »meine kleine Marianne schmachtet nach einem Geliebten.«
»Sei nicht albern. Es hat mal einen Lieutenant gegeben, einen Kollegen in Stanmore. Wir sind zusammen ausgegangen, nur zwei Mal, ins Theater in London und das andere Mal tanzen. Mehr nicht. Er wurde versetzt. Und vor dem Krieg hat es jemanden in Frankreich gegeben. Er war älter als ich. Es war wohl nur eine Schulmädchenschwärmerei … aber er hat dasselbe empfunden wie ich. Ich denke manchmal noch an ihn.« Sie blickte Benoît an. »Das ist alles. Die Geschichte meines Lebens.«
»Und wo ist dieser ältere Mann jetzt?«
Sie kannte das Prinzip der Beichte, dass man sich seine Schuld von der Seele redete und erlebte, wie sie weggespült wurde. Beichte, Buße, Absolution, Dinge, die die Nonnen gelehrt hatten. »Irgendwo in Frankreich, schätze ich. Wir haben den Kontakt verloren, als der Krieg anfing.«
»Dann bist du also frei und kannst machen, was du willst …«
»Natürlich. Die Sache ist bloß, ich verstehe mich selbst nicht richtig.«
»Wieso solltest du? Das ist typisch für euch Engländer. Statt einfach euer Leben zu genießen, verschwendet ihr eure Zeit damit, euch selbst verstehen zu wollen. Deshalb sind so viele englische Frauen frigide.«
»Wie viele hast du denn ausprobiert?«
Sein Lachen rettete die Situation. »Albern«, sagte er. »Du bist albern.«
Sie schlichen sich leise ins Haus, um niemanden zu wecken. Vor ihrem Zimmer erlaubte sie ihm, sie zu küssen, aber sie legte ihm die Hand auf die Brust, als er Anstalten machte, mit reinzukommen. »Lass mir Zeit zum Nachdenken«, sagte sie.
»Doch nicht schon wieder über dich?«
»Nein, über dich.«
Am nächsten Morgen machten sie einen Spaziergang an der Themse. Die Nachdenklichkeit des Vorabends wurde von Sonne und Wind vertrieben. Weiden wiegten sich im Luftzug unter einem Himmel mit Wolkenfetzen und einer launischen Sonne. Sie hielten Händchen, und manchmal gingen sie so dicht nebeneinander her, dass ihre Körper sich berührten. Sie erzählte ihm eine Geschichte, die typisch englisch klang – von drei jungen Schwestern und zwei Oxforder Geistlichen, die an einem Sommertag vor knapp achtzig Jahren zusammen eine Bootsfahrt machten, auf der einer der Männer den Mädchen eine Geschichte erzählte. Vielleicht hatte ihr eigener Deckname sie daran erinnert. »Hier ist es passiert«, sagte sie. »Hier auf dem Fluss.«
»Was denn?«
» Alice im Wunderland natürlich. Charles Dodgson war sein richtiger Name, aber als Autor nannte er sich Lewis Carroll.«
»Selbst er hatte einen Decknamen.«
Ein derartiger Witz war mit niemandem sonst möglich. Es gab so vieles andere, was mit niemandem sonst möglich war. Das Gespräch am Frühstückstisch war ein vorsichtiger Hindernislauf gewesen, so schwierig wie ein Verhör in Beaulieu. »Aber was sollst du denn in Algier machen?«, hatte Maman gefragt. »Und was soll das mit dem Sanitätsdienst? Ich versteh das einfach nicht.«
»Es ist alles sehr vage, Maman «, hatte sie erwidert. »Ich glaube, die wissen es selbst nicht so genau.«
»Und Sie, Benoît? Wo kommen Sie hin?«
»Ich vermute, die stecken mich hinter einen Schreibtisch und lassen mich Bleistifte anspitzen. Französische Bleistifte natürlich.«
Anschließend lachten sie darüber, wie geschickt sie der Wahrheit ausgewichen waren, aber trotzdem konnte sie ihm die eine Sache nicht erzählen, die wichtig war: das mit Paris und Clément.
Gegen Mittag kamen sie zu einem Pub neben einem Stauwehr. Ihr war heiß vom Spaziergang, sie hatte Schweißflecken unter den Achseln, und ihr Körper kam ihr seltsam verletzlich vor in dem dünnen Baumwollkleid. Sie nahmen ihre Biergläser und Sandwiches mit nach draußen zu einem leeren Tisch am Rand des Wehrs, wo Sprühwasser im Sonnenlicht schillerte. In der Nähe saßen zwei RAF
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