Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
er.
»Und muss ich jetzt weiterspielen?«
»Ich fürchte ja.«
XI
Der Zug nach Cambridge war voll. Alle Züge waren derzeit voll. Soldaten, Flieger, Männer in dunklen Anzügen mit wichtig wirkenden Aktentaschen, Akademiker in lockeren Tweedjacken und schlecht sitzendem grauem Flanell. IST IHRE REISE WIRKLICH NOTWENDIG ?, fragten Plakate auf jedem Bahnsteig, aber halb England schien triftige Gründe zu haben.
»Wessen Idee war das?«, fragte sie, als der Zug durch die Londoner Vorstädte rollte, »deine oder ihre?«
»Von mir«, sagte er.
»Wissen die Bescheid?«
Er nickte. »Sie fanden die Idee gut. Die persönliche Note. Du wirst überzeugender sein, wenn du ihn kennengelernt hast.«
»Wer sind die, Ned?«
Er lächelte und schüttelte den Kopf, blickte dann durchs Fenster auf die vorbeiziehenden Gebäude. »Du weißt, dass ich dir das nicht sagen darf.«
Cambridge selbst wirkte kleiner als Oxford, zarter, verletzlicher, als wäre sein einziges Fundament, der brüchige Untergrund des Lehrens und Lernens, vom Krieg angefressen worden und als drohte die ganze Stadt einzustürzen. Vom Bahnhof fuhren sie mit dem Bus ins Zentrum und brauchten ein paar Minuten, um zu Fuß zur Free School Lane zu gelangen, die sich zwischen dicht an dicht stehenden mittelalterlichen Häusern schlängelte. Auf halber Höhe die Straße hinunter kamen sie zu einem Torbogen im gotischen Stil, der zu einem Kloster aus dem vierzehnten Jahrhundert hätte gehören können, aber tatsächlich der Eingang zum Cavendish-Laboratorium war. Der Portier hatte das Auftreten eines Butlers, servil und wissend zugleich. »Sie möchten sicherlich zu Dr. Kowarski, nicht wahr, Sir? Ich denke, Sie finden ihn in seinem Büro.«
»Danke, Dawkins.«
»Schön, dass Sie mal wieder da sind, wenn auch nur für einen kurzen Besuch.«
»Es ist schön, wieder hier zu sein, Dawkins. Wie läuft es denn so?«
»Alles ziemlich merkwürdig, Sir. Zurzeit nicht viele Studenten und jede Menge Heimlichkeiten, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Und ob, Dawkins, und ob.«
Sie stiegen die Treppe hinauf und folgten langen Korridoren, die so kalt und freudlos anmuteten wie eine Besserungsanstalt. Eine offene Tür gewährte einen Blick in ein Labor, wo ein Mitarbeiter mit einem komplizierten Glasgerät hantierte. Ein Plakat erklärte das Verhalten bei Feueralarm und wo sich das Personal im Falle einer Evakuierung zu versammeln hatte. Fenster waren kreuz und quer mit Klebestreifen überzogen. Schließlich klopfte Ned an eine Tür, und eine barsche Stimme rief sie herein.
In dem Büro, das sie betraten, herrschte ein Durcheinander wie in einer Bärenhöhle. Die Fensterbank war übersät mit den Knochen und Sehnen elektrischer Apparaturen. Auf dem Schreibtisch verstreut lagen Akten und aufgeschlagene Bücher. Am Schreibtisch saß der Bär persönlich. Sein graues Haar war kurz geschnitten, sodass er aussah wie ein preußischer Armeeoffizier in den politischen Karikaturen von David Low, doch seine schroffe Herzlichkeit passte eher zu einem Russen als zu einem Deutschen. Aber er sprach Französisch, was eine Überraschung war – fließendes Französisch mit starkem slawischem Akzent. » Mon cher Edward! Je suis ravi de vous voir! Und diese reizende junge Dame ist …?«
»Meine Schwester Marian.«
»Natürlich, natürlich. Bezaubernd.« Der Bär nahm ihre Hand und hob sie an die Lippen. Die Geste war seltsam anmutig, als steckte in diesem groben Klotz ein zarter Dandy, der sich zeigen wollte.
»Das«, erklärte Ned, »ist Dr. Lew Kowarski.«
Kowarski räumte für Marian einen Stuhl frei, damit sie Platz nehmen konnte. »Ned hat mir viel von Ihnen erzählt. Er hat mir versprochen, dass Sie hübsch sind, und stattdessen sind Sie eine Schönheit, wie ich feststellen muss. Das ist der Engländer in ihm, der das eine mit dem anderen verwechselt. Ein echter Franzose würde nie und nimmer einen so schweren Fehler begehen.« Er schenkte ihr ein breites Lächeln. »Und ein Russe auch nicht.«
»Ich weiß nicht recht, was ich darauf sagen soll.«
»Am besten gar nichts. Nehmen Sie das Kompliment einfach an. Ned sagt, Sie besuchen vielleicht bald einen gemeinsamen Freund von uns.«
»Möglicherweise.« Sie fand das alles haarsträubend. Ihre Mission, ihre ganze Existenz sollte streng geheim sein, und doch wusste hier eine ganze Reihe von Leuten bestens Bescheid: der gesichtslose Fawley, der reuige Colonel Peters, der russische Bär Kowarski, ihr eigener Bruder. Wie viele
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