Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
französischen Kompliment. Ihre Mutter lächelte, und der Fauxpas war vergessen, doch kaum waren sie allein, jammerte er: »Eine Frau lädt mich übers Wochenende zu sich nach Hause ein und sagt mir nicht mal, wie sie heißt! Du bist nicht Anne-Marie? Du bist Marianne? Du lässt mich dastehen wie einen Idioten.«
»Ich hab ganz vergessen, es dir zu sagen. Und Anne-Marie gefällt mir ziemlich gut. Das ist mein Deckname, wie du weißt. Anne-Marie Laroche.«
»Und wie heißt du nun richtig?«
Es hatte etwas Prickelndes, ihm die Wahrheit zu sagen. »Marian«, sagte sie. »Marian Sutro.«
»Sutro? Was ist das denn für ein Name?«
»Ein englischer. Wie du sehen kannst, ist mein Vater durch und durch englisch.«
»Englisch zu wirken hat nichts zu sagen. Die Hälfte der blöden Engländer wirkt englisch, obwohl sie’s nicht sind. Sieh dir Churchill an. Der ist halb Amerikaner. Und sieh dir euren König an. Der ist größtenteils deutsch, zum Kuckuck noch mal.«
Am Abend gingen sie ins Kino, saßen in der stickig heißen Dunkelheit der hinteren Reihen, umgeben von anderen Paaren, die seufzten und stöhnten. Die Wochenschau von Pathé News brachte einen Bericht über Bombergeschwader, die am Himmel zwischen Großbritannien und Norddeutschland dröhnten. Hamburg im Bombenhagel , so der Titel. Flugzeuge zogen lange Kondensstreifen über den Himmel, amerikanische Flieger zielten mit Maschinengewehren auf unsichtbare Feinde. Und dann die Stadt bei Nacht, ein Flammenmeer. Die RAF in der Nacht, die USAAF am Tag. Rund um die Uhr, sagte der Sprecher. Sieben Quadratmeilen der Stadt seien in Schutt und Asche gelegt, so der Kommentar, zwölftausend Tonnen Bomben abgeworfen, achtundfünfzigtausend Tote. Eine schier unbegreifliche Zahl. Das Publikum bewegte sich unruhig und gab einen Laut von sich, irgendetwas Atavistisches, eine Mischung aus Entsetzen und Schadenfreude in einem.
Der Hauptfilm war eine Erleichterung, ein Machwerk aus Kabale und Liebesdrama mit Joseph Cotton. Wie sie in dreieinhalb Jahren Krieg gelernt hatte, verdrängte sie das Entsetzen und fühlte sich wieder wie sechzehn, verlegen wegen des noch fast unbekannten jungen Mannes neben sich, unsicher, was seine Motive und Absichten betraf und auch ihre eigenen. Als er seinen Arm um sie legte, regte sich etwas in ihr, eine Emotion, die Furcht ähnlich war – der gleiche Pulsschlag, der gleiche Angstschweiß –, doch als er ihren Kopf herumzog und sie auf den Hals küsste und dann auf den Mund, wandte sie sich ab. »Bitte«, flüsterte sie. »Nicht jetzt.«
Sie saß im Dunkeln mit Benoîts Arm um sie gelegt und fragte sich, was sie empfand. Und Clément, was sie für Clément empfand. Sie hatte noch immer seine Briefe, diejenigen, die bei ihr hatten ankommen dürfen. Seiten von Papier, die sie hegte und pflegte und immer wieder las, als wären sie rätselhafte Nachrichten mit verborgenen Bedeutungen, die in dem schlichten Text verschlüsselt waren.
Je t’embrasse. Der Sinn dieser Worte lag irgendwo zwischen Kuss und Umarmung und Liebe. Mein Onkel, hatte sie den Nonnen gesagt. Bloß mein Onkel. Und als ob die Briefe in einem seltsamen Code geschrieben gewesen wären, ahnten die Nonnen nie, was die Worte bedeuteten. Aber Fawley, der ruhige, nachdenkliche Fawley, hatte verstanden.
Nach dem Film gingen sie zu Fuß nach Hause, folgten der abgedunkelten Taschenlampe, die ein schwaches Licht auf den Bürgersteig vor ihren Füßen warf. Die Wolken hatten sich verzogen, und ein weißer Sichelmond hing tief über den Dächern. Der Mond entschied über ihr Leben. Er behielt sie hier, und er sagte ihnen, wann sie vielleicht wegmussten. Er bewahrte sie in Sicherheit oder stürzte sie in Gefahr. Die Vorstellung war irgendwie unglaublich romantisch und zugleich ziemlich bedrohlich, als würde die Bewegung der Himmelssphären darüber bestimmen, was in der sublunaren Welt geschah, genau wie die Astrologen behaupteten. »Günstlinge des Mondes«, sagte sie. »Dazu haben sie uns ausgebildet.«
Benoît verstand nicht, entweder die Quelle des Zitats oder die Bedeutung. Aber sie empfand ihr neues Leben wie ein sich entfaltendes Drama, von dem sie wusste, dass es darin Verrat und Hass geben würde, obwohl sie den genauen Ablauf der Handlung, die Motive und den Ausgang noch nicht kannte. Würde sie ihm von Paris erzählen? Wissen war eine Last. Sollte sie die Last erleichtern, indem sie die Sache mit Clément erklärte und dem Mann namens Fawley und dem russischen Bären
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