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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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Geschützstellung. Wir gingen zu dem Bau, der inzwischen von Gestrüpp und Gras fast überwachsen und mit weiteren zotigen Inschriften bedeckt war. Eine beträchtliche Anzahl von Mädchen und Jungen war im Lauf der Jahre hierhergekommen, um ihre unsterbliche Lust aufeinander auszudrücken. Wir suchten nach dem Tollkirschstrauch, aber er war verschwunden. Das Meer war so wie an jenem Tag in meiner Erinnerung, bewegt, aber ohne Gischtkronen, ein funkelndes Blaugrau, hin und wieder überschattet von dünnen, hohen Wolken. Ein warmer Tag für Anfang April. Am Horizont waren keine Schiffe zu sehen. Weit entfernt kreisten Möwen über dem kleinen Hafen im Westen.
    Wir stiegen wieder auf den Kamm und schauten zu Julie hinunter. Sie warf Steine ins Wasser, wie wir es an jenem Tag getan hatten. Und wie an diesem Tag versuchte sie erfolglos, sie übers Wasser hüpfen zu lassen. Ich konnte mich noch gut an ihren Schrei erinnern: »Das ist nicht fair!«, weil Hester und ich flachere Steine fanden und oft Erfolg hatten. Julie hatte Steine genommen, die zu rund waren, und ich gab ihr einen flacheren, aber sie schaffte es trotzdem nicht. Jetzt gelang es ihr einmal, und ich hörte sie »Hurra« rufen.
    Auf einem Rasenstück, das flachgetreten und abgenutzt war, blieben Hester und ich stehen und schauten uns an – vielleicht war das unser damaliger Picknickplatz. Julie bedeutete diese Stelle jetzt nichts mehr. Wenn Hester mich gefragt hätte, was ich denke, hätte ich nicht gewusst, was ich sagen sollte. Dass es genau hier und nur für einen Augenblick so war, dass das Unglück derjenigen, die ich liebte, nicht mehr ertragen werden konnte? War es nur wegen meiner Mutter, deren wunderbare Liebe für uns überlagert wurde von ihrem Leid, welches uns diese Liebe raubte? Hatte ich mich an Julies ständige Tränen wegen der Enttäuschungen, der unvermittelten Verletzungen erinnert? Hatte ich ihr mehr von alldem ersparen wollen? Doch ich musste gewusst haben, wie sehr sie ihn, trotz allem, liebte. Wie beständig und tolerant, wie unzerstörbar ist Tochterliebe! Bald darauf muss es mir erschienen sein wie eine kindische Narretei, ein Augenblick des Zorns, als ich entdeckte, wie beschränkt meine Macht ist. Denn er stand selbst kurz davor, uns sein Leben zu entreißen. Hatten Hester und ich damals schon gewusst, dass wir die Überlebenden sein würden?
    Und seitdem? Ist es einfach so, dass ich ein Leben ohne jede vergleichbare Intensität der Zuneigung geführt habe, sie beiseitegeschoben, entleert habe, zugunsten einfacherer Bindungen, die leichter auszudrücken und deshalb beherrschbarer sind – an Ideen, an liebgewonnene Werte, die Vaterlandsliebe? Nein, falls Hester mich je fragen sollte, was ich an diesem Tag dachte, wüsste ich nicht, was ich antworten sollte. Aber sie wird es nicht tun, weiß sie doch inzwischen, dass unsere Zweifel und Fragen sehr ähnlich sind – man muss damit leben, würde sie sagen. Und was habe ich, wenn überhaupt, von ihm gelernt? Dass man diese giftige Mischung aus Grausamkeit und Charme meiden sollte? Dass man sich innerhalb der Grenzen bewegen sollte? Ich kann es nicht sagen. Vielleicht sagt es Sheila mir eines Tages.
    Hester stellte sich neben mich. Ich hatte mein Jackett über der Schulter. Julie drehte sich um und starrte uns an. Kurz öffnete sich ihr Mund. Dann winkte sie und kam auf uns zu. Es schien sie einfach zu freuen, dass sie an diesem perlenden Frühlingstag mit uns am Meer sein konnte. Ihre Augen wurden größer, und sie lächelte, aber nachdenklich, wie in sich hinein. Plötzlich schaute sie auf das Gras und den Sand zu ihren Füßen, als hätte sie etwas verloren. Als sie bei uns war, und wir ihr in unserer Mitte Platz machten, ließ sie es zu, dass wir uns bei ihr einhakten. Hester fragte sie, was sie gesucht habe. Sie schüttelte den Kopf, spielte aber mit den Fingern an ihrer Taille. »Mutters Verlobungsring, vielleicht?«, murmelte Hester. Genau das hatte ich auch gedacht, aber nicht zu fragen gewagt. Denn jeder Hinweis auf die Kindheit betrübte sie immer. Sie schaute uns abwechselnd an. Später waren wir übereinstimmend der Meinung, dass es fast so war, als wüsste sie, wer wir waren. Fast. Diese großen blauen Augen, im Sonnenlicht jetzt etwas heller, schienen etwas jenseits dieser in sich versunkenen Leere zu bergen. Wir gingen über den alten Pfad zurück, nebeneinander und dicht beisammen, auch wenn wir immer wieder stolperten. Wir waren wieder die freundlichen, vertrauten

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