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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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leiste. Im ersten Haus sagte die Frau, sie hätte jetzt gern eine schöne Tasse Tee, und sofort war es Julie, die, ohne jede Aufforderung, in die Küche ging. Auch in den anderen beiden Häusern kochte sie Tee. Ansonsten saß sie am Rand des Zimmers in einem Sessel und schaute sich die vorhandenen Bilder an. Hester wusste nicht, ob Julie mitbekam, was sie redeten. Oder überhaupt darauf achtete. Außerdem, was konnte andere an irgendeiner dieser Unterhaltungen interessieren: das kalte Wetter und die Heizung, die Zipperlein, ein Gerät, das nicht richtig funktionierte? Oder irgendein Verwandter, der vielleicht in Kürze zu Besuch kam oder schon lange nicht mehr da gewesen war. Oder irgendeine Erledigung, etwas, das man aus den Läden holen musste. Oder wie man über die Runden kam, wenn die Rente nicht mehr so weit reichte wie früher. »Ich konnte es Julie kaum verdenken, dass sie sich für das alles nicht interessierte«, sagte Hester, und ihre beiläufige Art war plötzlich ein Zeichen ihres Schmerzes.
    Als sie Henry besuchen gingen, inspizierte Julie sofort den Zierrat auf seinem Fensterbrett. Sie nahm den Tiger zur Hand, der zwischen der Schäferin und anderem Landvolk stand, und schaute ihn stirnrunzelnd an. Er griff nach Julies Händen und sagte: »Na, Gott sei’s gepriesen, wen hast du mir denn da heute gebracht, meine liebe Hester? Dieses wundervolle Mädchen an einem klaren Wintermorgen oder -nachmittag oder was immer es ist. Kannst bei mir einziehen, wann immer du Lust hast, Herzchen. So was wärmt einem das alte Herz!« Ich fragte, wie Julie darauf reagiert hatte. »Sie riss die Augen auf und sah beunruhigt aus, aber sie versuchte nicht, die Hände wegzuziehen. Sie sagte einfach nur zwei- oder dreimal, dass es ihr leidtue. Ich glaube, sie meinte das ernst. Sie wollte ihn nicht enttäuschen, niemanden. Ihr Lächeln war anders, und ich dachte schon, sie würde gleich laut auflachen. Ein Aufblitzen der alten Neugier. Doch der alte Henry machte dann weiter mit seinen gewohnten resignierten, aber lustigen Beschwerden und schloss wie immer mit dem Spruch: ›Wenn du keine Witze ertragen kannst, hättest du nicht kommen sollen.‹ Als wir das Heim verließen, drehte Julie sich um und schaute in die Richtung, in der sein Fenster hätte sein können. Wenn er gewinkt hätte, wer weiß, vielleicht hätte sie zurückgewinkt.« Wenigstens gab es etwas, worüber Hester lachen konnte.
    Es war eine lange Rückfahrt, aber die Straßen waren einigermaßen frei. Julie hörte Musik, blätterte in einem Buch über Renaissancemalerei und starrte zum Fenster hinaus. Während es dunkel wurde, sah sie dort schwach das Spiegelbild ihres Gesichts, es leuchtete kurz auf und verschwand wieder im Licht der Häuser und Gebäude und der Autos des Gegenverkehrs. Nichts Markantes. Was sah sie? Die Vergangenheit, die kurz aufflackerte und gleich wieder verlosch, ihr eigenes Gesicht, flüchtige Erinnerungen, die Vergänglichkeit des Lebens, die wunderbaren Gemälde, das drohende Vergessen? Woher sollte man das wissen? Einmal, an einer roten Ampel, schaute ich sie über die Schulter hinweg an. Sie lächelte mich an. Ich wollte glauben, dass es aus einem Erinnern heraus geschah. Vielleicht vermittelte ich ihr auch einfach nur ein Gefühl der Sicherheit in dieser blendenden, dämmernden Verwirrung der Dinge.

X
    So ist es. Wegen der bevorstehenden Wahl habe ich den Auftrag für eine weitere Kolumne erhalten. Es gibt Radio- und Fernsehsendungen, zu denen ich eingeladen bin. Am Abend soll ich an einer Studiodiskussion teilnehmen. »Quasselköpfe« nennt man uns manchmal. Ich darf nicht klingen, als hinge mir das alles zum Hals heraus. Ich muss meine Verachtung verstecken. Ich darf nicht hämisch sein. Ich muss denen Respekt erweisen, die uns repräsentieren könnten. Unsere Demokratie ist alles, was wir haben. Sie sind alles, was wir haben. Wir sind nicht so exponiert wie sie. Man zeigt einen gewissen Mut, wenn man sich darauf einlässt, verspottet und beschimpft zu werden. Die Befriedigung des Ehrgeizes und des Machterwerbs ist dafür selten eine anhaltende oder ausreichende Entschädigung. Ich muss die ätzende Kritik und die Überheblichkeit und die Unhöflichkeit aus meiner Stimme, aus meinen Gedanken drängen. Es ist die Zeit des Zynismus, die uns das allgemeine Vertrauen ausgetrieben hat. Wir müssen lernen, nach dem Besten in den Menschen zu suchen. Es gibt ein moralisches Hinterland. Sonst wären der Spesenskandal, die nackte Gier der

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