Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
hier.« Ich erwiderte, falls Anderweltlichkeit ein Begriff dafür sei, dann sei das jetzt auch ein Wort für Julie. Die Welt, die wir bewohnten, hatte sie weit, weit hinter sich gelassen.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie schockiert wir gewesen wären, wenn wir das Foto nicht gesehen hätten. Sie war in ihrem kleinen Atelier in der Betreuten Werkstatt. Wir standen in der Tür und sahen, wie sie sich auf ihre jüngste Stickarbeit konzentrierte. Sie hatte uns nicht bemerkt. »Das ist Mutter«, flüsterte Hester. »Mit ihrer Nähmaschine.« Sie fasste kurz nach meiner Hand. Nach all diesen Jahren war hier nun Julie, unsere Schwester. Sie schaute kurz zu uns hoch, dann wieder auf ihre Arbeit. Wir waren so gut wie nicht vorhanden. Aber dieser eine Blick! Ihr Gesicht war rundlicher geworden, und die grauen Haare ließen sie streng wirken, aber die Augen leuchteten kurz auf, als hätte sie all die Jahre auf uns gewartet; wo wir denn gewesen wären, dass wir sie einfach so allein gelassen hätten, aber jetzt … Das alles, na ja, wir konnten in diesen flüchtigen Blick hineinlesen, was wir wollten, während wir sie von der Tür aus beobachteten.
Wir waren in Begleitung des Aufsehers, und Julie dachte vielleicht, er würde uns herumführen. Während er mit uns sprach, hielt sie ihre Stickerei in die Höhe, auf der ein fasanenähnlicher Vogel in herbstlichem Laubwerk dargestellt war. Wir bewunderten die Arbeit, und sie machte weiter.
Draußen gingen Hester und ich schweigend zu einem kleinen See. Wir stützten uns auf den Zaun und schauten den Enten zu. »Wir hätten es ihr sagen sollen«, sagte Hester. »Wir hätten zu ihr gehen und sagen sollen: ›Wir sind es. Johnny und Hester.‹« Ich antwortete nicht. Es war nicht nötig. Sie hatte angefangen zu weinen. Ich war froh, dass ich ihr das Foto geschickt hatte. »Sie ist unterwegs auf einer langen Reise, und sie wird nie wieder zurückkehren«, war alles, was ich schließlich herausbrachte.
Auf der Rückfahrt nach London besprachen wir, was wir mit ihr tun sollten. Die Currys hatten mir gesagt, dass alle Versuche der Psychiatrie »sie nicht erreicht hatten«. Sie sei ausgesprochen höflich gewesen, habe jedoch offensichtlich nichts von dem verstanden, was man ihr gesagt hatte. Sie habe nicht einmal genickt oder den Kopf geschüttelt. Es war, so hatten es die Currys mir gesagt, als würden die Stimmen aus einer anderen Welt kommen. Als wäre eine Grenze überschritten worden, und das Land hinter ihr läge in ewiger Dunkelheit. »Ist mir egal«, protestierte Hester. »Sie ist meine Schwester. Ich hole sie zu mir.«
Und das ist der Grund, warum Julie jetzt hier ist. Ich werde den Rest des Abends mit den beiden verbringen, bevor ich Julie morgen wieder zurückfahre. Ich werde mir noch einige CDs von Hester leihen und vielleicht ein Buch, das sie mit ihrer so typischen langsamen Intensität durchblättern kann. Auf der Herfahrt hatte sie meistens die Augen geschlossen, und ich hatte keine Ahnung, ob sie schlief.
Bin jetzt wieder in meinem Zimmer. Julie half beim Aufdecken und Abräumen des Tisches. Sie aß mit Appetit und sagte: »Das Essen hat mir sehr gut geschmeckt, vielen Dank.« Hester fragte sie nach ihrer Arbeit in der Werkstatt, und sie sagte uns, sie sei ziemlich schwierig und erfordere viel Zeit. Sie schaute uns nicht an, wenn sie redete. Es war, als würde sie mit sich selber sprechen, es ihr aber nichts ausmachen, wenn man mithörte. Ihre Stimme war früher so variantenreich gewesen, zugleich flüssig und sprachlos, als würden die Gedanken ihr dauernd davonlaufen. Das Wenige, was sie jetzt zu sagen hatte, wurde neutral und bewusst gesprochen, als würde sie sich genau daran halten, wie andere ihr zu reden beigebracht hatten. Wie korrekt sie war, die Unkorrekteste von allen! Und was von der alten Julie erkannten wir noch in ihr? Natürlich den Klang der Stimme selbst, ihre leichte Heiserkeit. Ansonsten war das Kind wieder da, die niedergeschlagenen Augen, wenn sie sich große Mühe gab, ihr bestes Benehmen zu zeigen, um irgendwie den Zorn unseres Vaters zu vermeiden. Schweigen als Zuflucht, nicht Tränen.
Hester erzählte mir, dass Julie, als sie sie bei ihren verschiedenen Besuchen begleitete, nicht im Auto hatte sitzen bleiben wollen. Vielleicht hatte sie aber auch ganz einfach angenommen, dass Hester nicht allein in die Welt hinausgehen wollte. Sie hatte an diesem Tag drei Häuser besucht und immer erklärt, Julie sei eine Freundin, die ihr Gesellschaft
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