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Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Die Frau, die zu viel fühlte - Roman

Titel: Die Frau, die zu viel fühlte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Chadwick
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Banker und dergleichen nicht so überraschend für alle gekommen. So habe ich früher gesprochen und gedacht. Ich bezweifle, ob meine Leser, mein Redakteur wollen, dass ich anfange, über all die Güte, all den guten Glauben auf dieser Welt zu schreiben. Das Echo in der Luft kommt vom Jammern und der Blasiertheit. Applaus würde uns wenig Freude bereiten. Ich kann mich auf Hester verlassen, dass sie mich in die Schranken weist, wenn ich zu viel schwadroniere. Auf Sheila ebenfalls.
    Ich schrieb Mrs. Hayes einen kurzen Brief, um ihr zu sagen, dass Julie bei guter Gesundheit und bestens versorgt sei. Ich schrieb, dass sie glücklich sei. Ich schrieb, dass Julie sie mit »lieben Erinnerungen« herzlich grüßen lasse. Die Wahrheit ist nicht immer heilig. Etwa einen Monat später erhielt ich von ihren Nachbarn ein kleines Paket mit diesem Brief:
    Lieber Mr. Bridgewell,
mit großem Bedauern müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Mrs. Hayes vor einigen Wochen von uns gegangen ist. Sie freute sich wirklich sehr über Ihren Brief über Julie und auch darüber, sie gesund und glücklich zu wissen. Gegen Ende ging es ihr ziemlich schlecht, und sie bat uns, Ihnen das Beigefügte für Julie mit ihrer ganzen Liebe zu senden. Sie war eine sehr nette Dame, die sechsundzwanzig Jahre lang unsere Nachbarin war.
    Wir vermissen sie zu sehr. Bitte grüßen Sie Julie auch von uns recht herzlich.
    Mit freundlichen Grüßen
    Brenda und Stanley Coates
    Die Geschenke waren eine CD mit einer Aufnahme von Schuberts Der Tod und das Mädchen und die Selected Poems von Dylan Thomas, zu denen auch »Fern Hill« gehörte. Als ich beides Julie gab, sagte ich ihr, wer es geschickt hatte. Sie blätterte in dem Buch, hielt inne, als sie »Fern Hill« erreichte, und fuhr etwa eine halbe Seite lang die Zeilen mit dem Finger nach. Dann klappte sie das Buch zu, drückte es sich einen Augenblick lang an die Brust und legte schließlich die CD ein. Sie schloss die Augen und lauschte der Musik in einem Zustand äußerster Stille und Ruhe. Ich dachte, vielleicht will sie mich nicht mehr hier haben, wenn sie die Augen wieder aufschlägt, und ging deshalb.
    Ich brachte Sheila zu Julie. Es war Anfang Frühling, auf Bäumen und in Hecken sprossen die ersten Knospen. Da sie das Foto nicht gesehen hatte, war sie im Gegensatz zu Hester und mir nicht vorbereitet. Julie war genau so, wie Hester und ich sie beim ersten Mal gesehen hatten – sie saß über ihre jetzt beinahe fertige Stickerei gebeugt. Sheila stürzte auf sie zu, rief »Julie«, umarmte sie und beugte sich zu ihr, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. Julie wich zurück und wandte ihr Gesicht ab, die Hände noch immer über der Stickerei. Dann fingen ihre Finger langsam wieder an, sich im stetigen Rhythmus des Stickens zu bewegen. Ich hatte einen Augenblick des Entsetzens gesehen, jetzt aber war ihr Gesicht wieder friedlich. Auch Sheila war nur irgendeine Fremde, die hier war, um ihre Arbeit zu sehen. Sie hielt den Rahmen leicht schräg, so dass wir sehen konnten, welche Fortschritte sie machte. Die raffiniert komponierte Stickerei war von einer vielfarbigen Lebendigkeit, der Paradiesvogel war fertig, das Herbstlaub um ihn herum nahm Gestalt an. Sheila hatte sich hinter mich gestellt, als ich einen Schritt näher trat, um mir die Arbeit genauer anzusehen und sie irgendwie zu loben. Als ich mich wieder umdrehte, war Sheila verschwunden.
    Draußen saß sie, das Gesicht in den Händen, auf einer Steinmauer. Ihre Schultern bebten, und als ich mich näherte, hörte ich sie schluchzen. Ich setzte mich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. Eine Weile saßen wir schweigend da, bis das Schluchzen nachließ. Sie drückte sich enger an mich, legte ihren Kopf auf meine Schulter. Ich glaube, in diesem Augenblick beschlossen wir beide, irgendwann einmal zu heiraten.
    Auf der Rückfahrt redeten wir nicht über Julie. Wir trauerten. Ich hatte sie vorgewarnt, dass Julie sie möglicherweise nicht erkennen würde. Aber ich hatte sie nicht genug auf ihr Aussehen vorbereitet, die Distanziertheit ihres Blicks, die Ausdruckslosigkeit ihres Gesichts, die Abwesenheit von Leben … Seitdem versuchen wir, die richtigen Worte dafür zu finden, was aus ihr geworden ist, suchen irgendeine Verbindung zu dem, was sie einmal war, um uns selber zu trösten. Einmal stellten wir übereinstimmend fest, dass wir uns vorstellen konnten, mit ihr zusammen in die Werkstatt zu fahren. Wir konnten uns vorstellen, wie sie zu der

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