Die Frau, die zu viel fühlte - Roman
hatte sie geantwortet. »Aber sie lächelte auf das Baby hinunter, das auf ihrem Bauch lag, und sagte, es sei ins Leben gekommen für all die anderen.« Schwester Boniface schien neugierig gewesen zu sein, was sie damit meinte. Doch sie hatte nicht gefragt, und auch die Currys hatten es nicht gewusst.
Da stand ich auf und ging zum Fenster. Weißt du noch, Hester, was sie in dem letzten Brief geschrieben hat, den ich dir schickte? Wir wissen es, nicht?
Für eine Weile waren die Currys zu mitgenommen, um etwas zu sagen. Elizabeth holte neuen Kaffee, während Gerald unter irgendeinem Vorwand das Zimmer verließ. So war ich allein. Ich hatte ihren Sohn kennengelernt, hatte sein übersprudelndes Talent gehört, seine Höflichkeit erlebt. Ja, und hatte auch seine Gesichtszüge gesehen, seine Bereitschaft zum Lächeln, seine wachen, blauen Augen. Ich hatte Julie in ihm gesehen. Er war wunderschön. Unser Neffe. Diese Musik war förmlich aus ihm herausgeflossen.
Als sie das Baby zum ersten Mal besuchten, hielt Julie es, wie sie es so oft auf Gemälden gesehen hatte. »Sie sah sich selbst in ihnen«, sagte Gerald. »Nein, mein Lieber«, erwiderte Elizabeth. »Das wollen wir nur glauben. Sie schaute auf den Jungen hinunter, als hätte man ihn ihr für eine Weile zum Halten gegeben.« Julie hatte das Baby hochgehoben, es einmal auf die Stirn geküsst und es ihnen dann mit ausgestreckten Armen überreicht. Sie hatte sie mit einem verwirrten, suchenden Ausdruck angeschaut. Und dieser Ausdruck hatte sich nie wirklich verändert – als würde sie darauf warten zu begreifen, nicht, wer sie waren oder was sie hier machten, sondern etwas begreifen, das jenseits von ihnen lag. Sie übergab ihr Kind, nicht ihnen, sondern seiner eigenen Zukunft, wie immer die auch aussehen mochte. Das waren die Dinge, die sie einander im Lauf der Jahre gesagt hatten. Dinge, die sie glauben wollten. »Vielen Dank«, hatte sie gesagt. Das war alles. Schwester Boniface sagte, nachdem das Kind weggebracht wurde, hätte sie nicht gesprochen. Sie suchte nicht nach ihm. Schwester Boniface hatte gefragt, ob sie das Baby noch einmal wiedersehen wolle, und sie hatte geantwortet, sie werde am Strand nach ihm Ausschau halten, ob er dort vielleicht spiele.
Sie hatten sie sehr oft besucht. Zunächst hatten sie das Kind immer mitgenommen. Sie hatte den Jungen einige Augenblicke gehalten, ihn aber dann zurückgereicht, als hätte man ihn ihr nur für eine Weile zum Aufpassen gegeben oder als wäre er für jemand anderen gedacht.
Sie sagten mir, dass Julie mit ihrem Leben zufrieden zu sein schien. Ganz in der Nähe war eine Betreute Werkstatt, wo Leute ein Zimmer und einen kleinen Arbeitsplatz erhielten. Es gab auch einfache Mahlzeiten. Julie lernte dort Handarbeit und Sticken und entwickelte Muster, die sie aus Gemälden kopierte. Es war nur eine halbe Meile entfernt, und sie ging selbständig dorthin.
Schließlich wurde ihnen gestattet, den Jungen zu adoptieren, und so wurde er ihrer. Sie brachten ihn weiterhin zu Julie, aber nachdem sie eines Tages nach ihm gegriffen und er zu weinen angefangen hatte und dasselbe dann noch ein zweites Mal passierte, beschlossen sie, ihn nicht mehr mitzunehmen. Bei ihrem nächsten Besuch schaute sie an ihnen vorbei, als würde das Kind hinter ihnen kommen. Dann schüttelte sie den Kopf, bevor sie ihnen ihre neuesten Stickereien und ein Buch, das sie sich ausgeliehen hatte, zeigte. Sie hätten irgendjemand sein können, zufällige Besucher, die sich für ihre Arbeit interessierten. Die Sachen wurden auch regelmäßig verkauft, um die Kosten für ihr Zimmer und die Mahlzeiten zu decken. Nach ihrem Kind suchte sie nie mehr.
Du wirst sie bald kennenlernen, Hester, diese guten Menschen. Ich hoffe, auch den Jungen. Wir haben jetzt eine Familie. Du wirst mit eigenen Augen sehen, dass trotzdem alles einen guten Ausgang genommen hat.
*
Kaum hatte Hester meinen Bericht erhalten, besuchten wir beide sie zum ersten Mal. Schwester Boniface begrüßte uns, und als wir uns bei ihr bedanken wollten, legte sie die Hände aneinander und sagte: »O nein, wir dürfen uns glücklich schätzen, es ist ja eine solche Gnade, sie bei uns zu haben. Sie hat uns so viel gegeben.« Darauf blieb nicht mehr viel zu sagen. Wir waren höchst willkommen, fühlten uns aber wie Eindringlinge in einer Welt, in die Julie gehörte und wir nicht. »Schwester Boniface bringt einen Großteil ihres Lebens im Gebet zu«, sagte Hester später. »Sie ist nicht wirklich
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