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Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beryl Bainbridge
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Bernards Adresse. Dann kritzelte sie: Gutes Wetter  … Amerika ist toll . Sie konnte nicht schreiben, was sie wirklich dachte, nicht wenn Harold es vielleicht lesen wollte. Als die Bedienung das Essen brachte, sagte er: »Dieser Füller … wo hast du den her?«
    Sie erwiderte ziemlich schnell: »Der hat meinem Vater gehört. Er hat ihn bekommen, als er sich aus der Getreidebörse zurückzog, in Anerkennung seiner Verdienste um den Handel.«
    Während sie aß, blickte sie aus dem Fenster, denn Harold war ein unappetitlicher Esser. Er mampfte sogar seine Kartoffeln zu Brei, als fürchtete er daran zu ersticken. Und er saugte mit der Zunge schnalzend an seinen Zähnen, mal vorn, mal hinten.
    Später brachte er ein Moskitonetz an, sodass sie mit offenen Türen schlafen konnten. Trotzdem war
es sehr stickig, und Rose spürte, wie ihr das Haar an der Kopfhaut klebte. Sie kletterte auf den Vordersitz und holte sich Handtuch und Shampoo. Über dem Lenkrad hing Harolds Jackett; aus der Tasche ragte ein zusammengefaltetes Papier. Sie brauche nicht lang, sagte sie und ging in den Duschraum neben dem Café. Nachdem sie sich das Haar gewaschen hatte, wanderte sie in den Schatten der Eichen, hockte sich hin, den Kopf zwischen den Knien, und rubbelte es mit dem Handtuch trocken.
    Es war sehr still im Wald; von Zeit zu Zeit bohrte sich ein Dolch aus Sonnenlicht durchs Laub und bespritzte die braune Erde mit Silber. Als sie sich das Haar glatt gebürstet hatte, untersuchte sie den Zeitungsausschnitt aus Harolds Jacke. Unter dem unscharfen Foto eines Frauengesichts stand der Satz: Prominente Rechtsanwältin begeht Selbstmord . Kein Name, keine weiteren Informationen. Sie wühlte in ihrer Tasche nach dem Füller, den sie vorher benützt hatte, wickelte ihn in das Papier und warf ihn ins Unterholz. Dann spazierte sie zurück zum Lieferwagen.
    Harold hatte zwei Klapphocker herausgeholt und eine Weinflasche geöffnet; sie war schon halb leer. Rose machte ihm keine Vorwürfe. Es war bestimmt nicht leicht, seine Zeit mit einer Frau zu verbringen, die trotz der gemeinsamen Sprache so etwas wie eine Ausländerin war – und obendrein rauchte. Er reichte ihr ein Glas, aber sie schüttelte den Kopf. Wein lag
ihr nicht; es dauerte viel zu lange, bis man davon lustig wurde.
    Harold hatte gerade ein Buch gelesen, doch jetzt war ihm offenbar nach Reden zumute. Er machte ihr sogar eine Art Kompliment über ihr glänzendes Haar – es flattere wie eine Fahne im Wind. Sie errötete wider Willen. Dann sagte er, am nächsten Morgen wolle er in einem Ort namens Corinth einen Mann besuchen, mit dem er in seiner Jugend zusammengewohnt habe.
    »Ein Freund?«, fragte sie, obwohl sie schon Bescheid wusste; sie erinnerte sich an das Haus, das er ihr gezeigt hatte, als sie Washington verließen.
    Er sagte: »Früher … jetzt nicht mehr. Es kam etwas dazwischen. Er hat mich enttäuscht.«
    Sie antwortete: »Das meinen wir doch immer, wenn es nicht so läuft, wie wir wollen. Wahrscheinlich hat er nur getan, was er geglaubt hat tun zu müssen.«
    Sie dachte an Dr. Wheelers Erklärung, warum Menschen sich schändlich verhielten. Kleine Leute, die sich einen Vorteil davon versprächen, wenn sie unredlich handelten, unterschieden sich in nichts von den großen Missetätern. Napoleon trage nicht mehr Schuld als Menschen, die anderen ebenso viel Leid zufügen wollten wie er, aber nicht die Macht dazu hatten. Dahinter stecke das Bedürfnis, Herr der Lage zu sein, außerdem ein gleichmäßiger Herzschlag, der den Lebenswillen befeuere. Letzteres hatte sie nicht ganz verstanden.

    »Es ist jemand gestorben«, sagte Harold. Jetzt schaute er sie richtig an, wie jemand, der seinen Schmerz teilen will. Plötzlich hob er die Hand und schlug sich so heftig auf die Wange, dass er auf seinem Hocker seitlich zusammensackte. »Herrgott!«, schrie er.
    »Ich mach mir Sorgen«, platzte sie heraus, »weil die Zeit so schnell vergeht. In drei Wochen muss ich wieder arbeiten. Wie viele Tage brauchen wir bis nach Wanadingsbums?«
    »Vierundzwanzig Stunden«, brummte er und kratzte sich das zerbissene Gesicht.
    Sie staunte. Es kam ihr vor, als läge ihr altes Londoner Leben weit hinter ihr; die Zeit hatte sich ihrer Kontrolle entzogen, wie ein Stein, der einen Hang hinunterspringt.
    Harold kletterte in den Lieferwagen und kam mit einer Flasche Insektenschutzmittel und zwei Fotos zurück; auf dem einen sah man einen Mann mit schwarzem Haar, der in einem Garten ein Loch grub, und

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