Die Frau im gepunkteten Kleid
gesellte, war er verblüfft über ihr Aussehen. Ihre Kleidung war zwar noch ärger zerknittert, doch ihr Gesicht hatte sich verändert. Nicht dass sie hübsch gewirkt hätte, aber ihm fielen zum ersten Mal die gewölbten, dunklen Augenbrauen unter dem hellen Wuschelkopf auf.
Sie wandte sich an George. »Ich möchte mich dafür entschuldigen, wie ich mich gestern Abend aufgeführt habe. Ich war ein bisschen aus dem Takt.«
George winkte ab. »Nicht so schlimm wie Bud«, sagte sie. »Der hat sich im Lift übergeben.«
»Ich habe einen komischen Traum gehabt« sagte sie, »von Dr. Wheeler. Er ist über einen Friedhof spaziert und hat Namen aufgeschrieben.«
Niemand antwortete. Jesse spielte mit der Kaffeemaschine. Harold starrte auf die Straßenkarte und dachte an einen Morgen im Hochsommer mit Vogelgezwitscher in den Bäumen und zuckenden Insekten über einem See, der in der Sonne glitzerte. »Aber ich liebe dich doch«, hatte sie beteuert, und er, krank vor Angst, hatte gesagt, Liebe sei nicht das Problem. Liebe falle vom Himmel, ungefragt, unverdient. Seine Mutter habe er geliebt. Das Schwierige sei es, jemanden gernzuhaben.
George fragte: »Weiß Wheeler, dass Sie mit Harold fahren?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Rose. »Ich habe ihm zwar geschrieben, dass ich einen netten Amerikaner kennengelernt habe, aber ich habe keinen Namen genannt, weil Harold damals noch nicht erwähnt hatte, dass er ihn kannte – erst viel später. Da hatte Dr. Wheeler Chicago schon verlassen. Meinen nächsten Brief hat er bestimmt nicht erhalten.«
»Das ist ein interessantes Phänomen«, sagte George, »wenn du wissen willst, wie du wirklich über jemanden denkst, musst du darauf achten, welchen Eindruck seine Handschrift auf dem Briefumschlag auf dich macht.«
»Es wird langsam Zeit«, unterbrach Harold sie und faltete die Karte zusammen.
George fragte Rose, was sie frühstücken wolle. Sie sagte: »Nichts, danke, nicht nach diesem mächtigen Abendessen.« Jesse reichte ihr einen Apfel, groß und rot, und sie biss ungestüm hinein.
Als sie sich verabschiedeten, küsste Rose George Shaefer auf die Wange. George hob den Saum ihrer Schürze und tupfte die Stelle ab. Jesse begleitete seine Gäste zum Lift und drängte Harold, mit ihm in Verbindung zu bleiben. »Du kannst mich jederzeit anrufen«, beteuerte er und umarmte ihn. Auch Harold drückte ihn an sich, was beide überraschte. »Na, na«, murmelte Jesse und klopfte ihm auf die Schulter.
Als sie zum Campingbus kamen, schleuderte Rose den halb gegessenen Apfel auf den Tiefgaragenboden. Der Aufprall kam als Echo von den Betonwänden zurück. Harold ballte die Fäuste, sagte aber nichts. In seinem Kopf entstand ein Bild, wie er sie um Mitternacht auf einem einsamen Highway stehen ließ. Er würde rasch beschleunigen und zusehen, wie ihr Bild im mondbeschienenen Rückspiegel immer kleiner wurde.
Bevor sie Washington verließen, fuhr er die Wisconsin Avenue entlang, wo er vor Jahren mit Chip Webster in einer Zweizimmerwohnung gelebt hatte. Das Haus sah fast noch genauso aus, nur dass die Äste des damals frisch gepflanzten Ahorns jetzt über dem Dach schwankten. Er habe im Erdgeschoss gewohnt, erzählte er Rose, und sie fragte ihn, ob er dort glücklich gewesen sei. »Glücklich?«, wiederholte er, als sei das ein Wort in einer fremden Sprache. Dann erklärte sie, den Apfel habe sie weggeworfen, weil sie an Obst nicht gewöhnt sei, wegen der Rationierung in ihrer Kindheit. Er war verblüfft; das klang nach einer Entschuldigung.
4
Sie fuhren eine Straße entlang, die Harold als Interstate Highway bezeichnete. Rose wusste, dass er sich über den weggeworfenen Apfel geärgert hatte, und so erzählte sie ihm, wie sehr ihr die Shaefers gefallen hatten. Sicher freute es ihn, wenn sie seine Freunde lobte. »Es war toll«, schwärmte sie, »dass sie nicht an die Decke gingen, wenn mal etwas verschüttet wurde oder Asche auf den Teppich fiel.«
»Mach dir nichts vor«, erwiderte Harold. »Von Unordnung kriegt Jesse die Krätze. Der arme Kerl hat wahrscheinlich die halbe Nacht den Dreck weggeputzt.«
Dann bat er sie relativ höflich, ruhig zu sein, er müsse sich konzentrieren. Sie sagte, das verstehe sie gut, der Verkehr sei ja so dicht, doch er antwortete, es sei nicht wegen der Autos, sondern weil ihm so viel durch den Kopf gehe.
Sie hatte nichts dagegen; es sah ohnehin nicht danach aus, als verstehe er, wovon sie sprach. Sie füllte ihren Kopf mit Bildern von Dr. Wheeler,
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