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Die Frau im gepunkteten Kleid

Die Frau im gepunkteten Kleid

Titel: Die Frau im gepunkteten Kleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beryl Bainbridge
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dieser Stadt gewesen. Eine bildhafte Erinnerung an den Ort hatte er nicht, nur Geräusche, laute Stimmen rund um einen unvermittelten Aufbruch, während die Sonne emporstieg und die Dunkelheit verschluckte.
    Rose stupste ihn an. Sie fragte, ob er sich verfahren habe. Er erzählte ihr, dass hier in der Nähe einmal die Schwester seines Stiefvaters gewohnt habe. »Es gab einen Streit«, sagte er. »Ich habe geschlafen. Damals habe ich nicht verstanden, worum es ging.«
    Rose fragte, ob er sich gefürchtet habe, als er ohne Erklärung aus dem Bett gerissen worden sei. Sie selbst
habe die meiste Zeit ihrer Kindheit zusammengekauert auf der Treppe verbracht und zugehört, wie ihre Eltern sich beschimpften. »Es war gruselig, aber es hat mich stark gemacht.«
    Das sah er nicht so. »Diese Tante war eins fünfundachtzig groß«, gestand er, »und hatte stahlblaue Augen.«
    »Na und?«, erwiderte sie.
    »Das hat mich fertiggemacht«, platzte er heraus und bedauerte seine Wortwahl sofort. Er wollte nicht, dass sie in ihm einen gebrochenen Mann sah.
    Chip Websters Haus befand sich in einer von Bäumen gesäumten Straße; auf der Veranda welkten weiße Blumen vor sich hin. Vor der Tür des Nachbarhauses stand eine rothaarige Frau auf Zehenspitzen und schnitt eine Rose. Harold blieb lange sitzen und starrte auf einen Hund, der auf dem Rasenhang eine Zeitung beschnüffelte. Diesmal hielt Rose den Mund. Minuten vergingen, dann öffnete sich die Tür, und ein Mann lief die Stufen zum Briefkasten hinunter. Er war barfuß und hatte nur einen Bademantel an. Die Nachbarin nickte ihm zu, und er rief etwas, worauf sie mit den Fingern schnalzte, um den Hund ins Haus zu locken. Der reagierte nicht.
    »Das ist er«, sagte Harold und rührte sich nicht vom Fleck.
    »Am besten, du denkst nicht mehr daran, wie es einmal gewesen ist«, sagte Rose, »und konzentrierst dich nur auf das Hier und Heute.«

    Natürlich hatte sie recht, aber schließlich hatte sie keine Ahnung von seiner speziellen Vergangenheit. »Du bleibst hier«, sagte er und stieg aus.
    Chip Webster wollte schon die Tür hinter sich zuschlagen, als Harold die Stufen heraufkam. Chip sagte: »Lange nicht gesehen« und fügte mit einem Blick auf den Campingbus hinzu: »Bring sie mit rein.« Offensichtlich hatte Jesse Shaefer ihn telefonisch vorgewarnt.
    Widerstrebend winkte er Rose, sie solle nachkommen. Sie warf den Regenmantel hinter sich und sprang auf den Gehsteig, dass ihre Brüste hüpften.
    Das vordere Zimmer brauchte einen neuen Anstrich. Die linke Wand war schon ganz ramponiert von der Feuchtigkeit. Über dem Sturz der offenen Tür, die auf eine rückwärtige Veranda führte, hing eine vergrößerte und gerahmte Fotografie, geschmückt mit längst verwelkten Blumen. Auf dem Tisch standen zwei Teller, einer davon voll unappetitlicher Essensreste, und ein angebrochener Brotlaib lag neben einem Bratenstück, gefährlich nahe an einer roten Katze, die etwas Flüssiges aus einem Suppenteller schlürfte. Auf der Treppe saß eine Frau in einem Männerpyjama, wiegte den Oberkörper vor und zurück und summte oder schluchzte. Die großen Zehen ihrer nackten Füße waren scharlachrot lackiert. Harold tat aus Höflichkeit einen Schritt in ihre Richtung, aber ihre mit Wimperntusche verschmierten Augen blickten ihn feindselig an.

    Webster machte sich nicht die Mühe, die Frau vorzustellen, sondern äußerte nur das Übliche: angenehme Reise, wechselhaftes Wetter, sie alle würden älter. Wenn Harold ihn so ansah, war an dieser letzten Bemerkung nicht viel Wahres dran. Websters Haar war so dunkel, sein Blick so durchdringend wie eh und je. Er verriet keinerlei Unbehagen angesichts dieses plötzlichen, wenn auch angekündigten Besuchs. Als er sich setzte, sah man trotz des Bademantels seine Hoden hervorquellen. Ein dermaßen selbstsicherer Mann, überlegte Harold, ist nicht einmal imstande, sich entblößt zu fühlen.
    Vom ersten Tag an hatte Webster gewusst, was Wheeler im Schilde führte, und hatte für ihn gelogen. Ein einziges Mal, als er in Washington betrunken aus einer Bar kam, war er drauf und dran gewesen, aufzudecken, was da geschah. Doch dann hatte er allem Drängen zum Trotz wieder dichtgemacht. Später wurde klar, dass er ein williger Vermittler gewesen war und sogar seine Adresse für Briefe zur Verfügung gestellt hatte. Schlimmer noch: Als sie jenes letzte Mal versuchte, ihn zu verlassen, war es Webster, der von dem furchtbaren Ausgang benachrichtigt wurde.
    Webster und

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