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Die Frau im Tal

Die Frau im Tal

Titel: Die Frau im Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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geglaubt, die Ereignisse steuern zu können, habe mir vorgestellt, daß sich die Beziehung zwischen Sigrun und mir entwickelt, daß es für keinen von uns ein Zurück geben würde. Aber ich bin an einem Endpunkt angelangt, komme ihr nicht mehr näher. Die Hand, mit der ich glaubte, sie öffnen zu können, ist zum Symbol der Distanz zwischen unsgeworden: So weit bin ich gekommen, aber nicht weiter. Und wir haben schon lange nicht mehr zusammen gespielt. Sie schiebt es auf den langen, kalten Winter. »Da häufen sich die Herzinfarkte«, sagt sie. Viel mehr Menschen werden krank. Da gibt es viel mehr Arbeit für eine Distriktsärztin.
    Ich treffe Eirik draußen auf dem Hof vor dem Internat, wo ich vor dem plötzlichen Licht, das den Frühling ankündigt, die Augen zukneife. Er trägt einen roten Skianzug, die Mütze rot, weiß und blau, unter den Arm geklemmt Langlaufskier und Stöcke.
    »Du siehst blaß und erschöpft aus«, sagt er. »Fehlt dir etwas?«
    »Nur die Rachmaninow-Krankheit. Ich habe in letzter Zeit möglicherweise zuviel geübt. Außerdem geht es nicht nur um das eine Konzert. Ich habe ein neues Repertoire, das ich noch einstudieren will.«
    »Demnach könnte dich eine kleine Skitour aufmuntern. Kommst du mit?«
    »Ja«, sage ich. »Gerne.«
    »Na toll«, sagt er. »Das ist mal ein Wort!«
    Er hat es aufgegeben, mit mir zu rechnen, denke ich. All die Pläne, die wir im Herbst hatten. Die langen Touren das Tal hinauf. Übernachten im Lavvo. Jedesmal war Rachmaninow die Ausrede. Das Üben. Und jede Möglichkeit, mit Sigrun spielen zu können. Was ganz im Sinne von Eirik war, weil er merkte, daß es ihr guttat. So, wie ich ihn gemieden hatte, weil ich den Gedanken nicht ertrug, wie er von mir und Sigrun betrogen wurde, so muß er mich als einen genialen, blutarmen Künstler aus der Großstadt abgeschrieben haben. Das einzige, wozu ich mich als tauglich erwiesen hatte, waren meine wöchentlichen kleinen Konzerte für die Schüler und die Einführung in klassische Musik, ein Bereich, den Eirik, wie er zugab, nicht genügendbeherrschte. Dazu kam meine Rolle als Geburtshelfer bei der offensichtlich begabten Sängerin Tanja Iversen.
    Er organisiert Skier und Stiefel, besorgt einen alten Anorak und einen geeigneten Wollpullover. Es ist elf Uhr vormittags. Die Sonne steht in diesen Breitengraden noch nicht hoch am Himmel, und das Licht trügt. Ich spüre die Kälte, vermutlich minus zwanzig Grad.
    »Wir können hinüber zur Bärenhöhle laufen«, sagt Eirik begeistert, während er meine Skier einwachst. »Das ist ein ordentliches Stück Weg, aber für einen jungen Burschen wie dich zu bewältigen.«
    Ich verspüre eine plötzliche männliche Lust, mich zu beweisen, und murmele: »Das schaffe ich schon.«
    »Ich werde dafür sorgen, daß deine Skier perfekt gleiten. Ich könnte als Einwachser für die Nationalmannschaft arbeiten.«

    Er hängt sich ein Gewehr um. Dann gehen wir los. Er voran. Ich direkt hinter ihm. Beim Anblick des Gewehres habe ich ein mulmiges Gefühl. Ich habe die Schüsse nicht vergessen Die zuckende Gestalt auf dem Eis.
    Nach einer Weile erreichen wir die mit Birken bewachsene Anhöhe. Ich spüre, wie mich die Kälte trotz Anorak und Pullover packt. Ein Wind aus Nordost trifft uns von hinten. Erik hat die Hauptloipe verlassen und tritt eine frische Spur in südlicher Richtung, wo alles öd und leer ist. Bereits nach einer Stunde ist es merklich dunkler, ein trügerisches blaues Licht, das hier typisch ist. Aber ich weiß, daß Eirik eine Stirnlampe mitgenommen hat.

    Er läuft ein gleichmäßiges, zügiges Tempo. Bis jetzt habe ich keine Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Die frische Luft wirkt belebend wie die ersten Schlucke eines eiskaltenWodkas. Mir fällt ein, was Sigrun mir erzählte, daß die Birke für die Russen fast ein heiliger Baum ist. Zwischen den weißen Stämmen wurden lebende und eingebildete Personen von ihrem Schicksal ereilt wie in Tschechows Stücken. Ich denke an Puschkin, an Eifersucht und Beschuldigung, an Duell und jähen Tod.
    Die zielbewußte, energische Art, mit der Eirik läuft, wirkt zunehmend feindlich. Bei dem hohen Tempo können wir nicht miteinander reden. Das ist vielleicht ganz in Ordnung. Ich sehe die gedrungene, muskulöse Gestalt vor mir, versuche, sie mir nackt vorzustellen, wenn er Sigrun liebt. Das ist unmöglich. Ich hatte von Anfang an recht. Eirik Kjosen ist nicht der Mann in ihrem Leben. Er hat ihr das nur eingeredet, so lange eingeredet, bis sie es

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