Die Frau im Tal
habe.
»Ich glaube nicht, daß der, der schlug, es ernst meinte«, sage ich.
»Schön, daß du es so auffaßt.«
»Au«, sage ich.
»Ja, das tut weh, aber es ist notwendig. Wirst du morgen für uns spielen können?«
»Ja, auf jeden Fall. Ich halte, was ich verspreche.«
»Eigentlich hätte ich das ganze Wochenende Dienst gehabt, habe aber getauscht, als ich hörte, daß du zu uns heraufkommst. Du bist trotz allem mein Schwager.«
»Dieser Gedanke ist mir auch schon gekommen.«
»Ich habe es erst beim Begräbnis erfahren. Daß wir verwandt sind, meine ich. Familie wurde bei uns nie großgeschrieben. Marianne ging immer ihre eigenen Wege.«
Sie schaut mich an mit dem Blick der Schwester. Ichbin ganz oben in Norwegen, an der Grenze zur Wildnis, in einer völlig anderen Realität als der in der Vorstadt von Oslo. Ich habe etwas Altes und Vertrautes gefunden, das trotzdem völlig neu ist.
Ihre Hände streifen mein Gesicht. So vieles steigt in mir hoch. Sie ist gleichzeitig ein Gespenst und eine wirkliche Person.
»Warum wirst du die Frau im Tal genannt?« frage ich nach einer Weile.
Sie errötet. Ich wußte nicht, daß sie diese Eigenschaft hat.
»Wer hat das gesagt?«
»Eine Freundin. Du kennst sie nicht. Eine Medizinstudentin. Was sie noch sagte, das sage ich nicht.«
»Die Leute reden so vieles.«
»Trotzdem ein schöner Name«, sage ich.
Sie zuckt die Schultern.
»Weil ich nun mal in einem Tal wohne«, sagt sie mit einem Lächeln. »Du solltest im Moment dein Gehirn nicht mit so komplizierten Gedanken belasten.«
Ich stelle fest, daß sie etwas hat, was auch Anja und Marianne hatten, nämlich die Fähigkeit, beachtet zu werden, egal, wie wenig gesagt oder getan wird. Eine Energie, die die Räume, in denen sie sich bewegen, bestimmt. Die Fähigkeit, allein durch ihre Gegenwart wahrgenommen zu werden. Die Fähigkeit, konkret und geheimnisvoll zugleich sein zu können und dort, wo sie erscheinen, die Hauptperson zu sein, über die die Leute reden, sobald sie den Raum verlassen.
»Warum bist du eigentlich hierhergekommen?« fragt sie plötzlich.
»Weil ich eine Tournee habe«, sage ich.
»Das ist ein schlechter Start für eine Tournee.«
»Vielleicht muß ich doch noch absagen.«
»Wegen der Schürfwunde? Kaum. Aber solltest du nicht an viel größeren Orten spielen als in Internatsschulen und Dörfern in der Finnmark?«
»Niemand soll mir vorschreiben, wo ich spiele«, sage ich und merke, daß sich der Alkoholnebel auflöst. »Außerdem habt ihr mich eingeladen, du und dein Mann, als wir uns auf Mariannes Begräbnis trafen.«
»Das ist etwas anderes. Wir meinten es ehrlich. Aber wir dachten nicht, daß du deshalb deine Karrierepläne über den Haufen wirfst.«
»Ich habe keine Pläne. Nicht nach all dem, was geschehen ist.«
»In allen großen Zeitungen wurde über dich berichtet. Du warst eine Sensation. Dann kommst du hierher. Wir hier oben sind so etwas nicht gewohnt. Das überfordert uns ein bißchen.«
»Um so besser«, sage ich.
»Vielleicht sind sie deshalb etwas unsanft mit dir umgegangen. Aber ich kenne diese Jugendlichen. Im Grunde sind sie harmlos.«
Wir sprachen fast nicht über Marianne, denke ich danach, als nur noch ihr Geruch im Raum ist. Sie handelt professionell. Ich muß auch versuchen, professionell zu werden, denke ich, während ich in dem kleinen Krankenhaus liege und weiß, daß Sigrun Liljerot durch die Gänge läuft. Es gibt andere, die ihre Zuwendung dringender brauchen als ich. Habe ich das Recht, in ihr Leben einzudringen, wie ich es im Moment gerade tue? Ich habe zwei Ziele. Über das eine kann ich reden. Das andere muß ich für mich behalten. Sigrun Liljerot übernimmt also Nachtdienste imKrankenhaus, um auszuhelfen. Sie ist genauso alt wie der Polizist. Sie hat mich untersucht und festgestellt, was mir fehlt. Es ist nur eine Platzwunde. Trotzdem hat sie mich meinen Rausch ausschlafen lassen. Jedenfalls ein paar Stunden. Sie hat sogar mit dem Polizisten gesprochen, hat ihn überredet, mich in Ruhe zu lassen und nicht zu einem Verhör mitzunehmen. Das hätte sie nicht tun müssen.
Ich döse vor mich hin. Ich bin auf dem richtigen Weg.
Der Alkoholpegel sinkt. Der Kopf kommt über die Wolkendecke. Jetzt muß ich aktiv werden. Jetzt muß ich das Gleichgewicht finden. Ich bin hier oben an der Grenze zur Sowjetunion, um zu spielen, um einige Konzerte zu geben, um mich in Rachmaninow zu vertiefen. Das darf ich nicht vergessen. Daß ich weitermuß, nicht
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