Die Frau im Tal
stehenbleiben. Daß ich vor allem Rachmaninow einstudieren will.
Ich muß geschlafen haben. Als sie wieder zu mir kommt, ist es draußen hell. Ich höre ihre Schritte. Sie bewegt sich langsam. Sie geht zum Fenster, zieht vorsichtig die Gardinen zur Seite. Nicht ganz, nur ein wenig. Die Morgensonne scheint mir ins Gesicht. Sie betrachtet mich einen Augenblick. Ich sehe, daß sie müde ist.
»Hei«, sagt sie.
»Hei«, sage ich.
»Hast du dich ein bißchen ausgeruht?«
»Ja. Und du?«
»Ach, ich bin diese Nachtdienste gewohnt. Und in dieser Nacht hat sich nichts Dramatisches ereignet. Nur ein leichterer Schlaganfall und ein junger Pianist mit einer Platzwunde an der Stirn.«
Wir lachen beide. In diesem grellen Licht wirkt sie älter als bei dem Begräbnis. Es muß auch in ihrem Leben langeNächte gegeben haben. Sie geht zu einem Schrank, holt Desinfektionsmittel und kommt an mein Bett. Setzt sich auf die Bettkante. Befeuchtet einen Wattebausch.
»Das tut vielleicht ein bißchen weh«, sagt sie.
Ich nicke. Dann legt sie den Wattebausch auf die Wunde an der Stirn, direkt am Haaransatz.
»Das tut nicht weh«, sage ich.
»Es ist nur eine oberflächliche Verletzung. Nichts Ernstes. Ich kann dich nicht länger hier im Krankenhaus behalten. Aber du kannst dich ein paar Stunden in meiner Wohnung ausruhen, bevor wir zur Internatsschule in Pasvikdalen fahren. Ich brauche in jedem Fall ein paar Stunden Schlaf, bevor ich mich ans Steuer setzen kann.«
»Deine Wohnung?«
»Ja, die Dienstwohnung des Distriktsarztes. Sie ist hier in Kirkenes. Ich kann sie benutzen, wenn ich hier arbeite.«
Der lange Ton
Die Wohnung hat drei Zimmer, zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und eine Küche. Sie liegt im oberen Stock über einem Geschäft für Eisenwaren. Alles weiß gestrichen. Sigrun steht neben mir und folgt meinem Blick. Mir gefällt die unpersönliche Einrichtung. Keine Bilder, fast keine Ziergegenstände. Ein Eßtisch in der Küche. In den Schlafzimmern je ein Doppelbett, in einem mit zerwühltem Bettzeug, das andere unbenutzt. Im Wohnzimmer eine Couch, zwei Sessel, ein Fernsehgerät und eine Stereoanlage.
»Fast wie im Skoog-Haus«, sage ich und werfe einen Blick auf die erstaunlich große Plattensammlung. Bernsteins Einspielung von Mahlers dritter Sinfonie liegt ganz oben.
»Warum hast du diese Platte?« frage ich.
Sie merkt, daß ich angespannt bin. »Ist das ungewöhnlich?« sagt sie. »Wer liebt Bernstein nicht?«
»Wer liebt Mahler nicht. Marianne hatte für uns Karten besorgt. In Wien. Als wir heirateten. Als Morgengabe. Mahlers dritte mit Abbado. Aber dann bekam sie eine Panikattacke.«
Sie nickt. »Ich glaube, ich weiß, was am Ende in ihr vorgegangen ist …«
Ich starre auf die zerwühlten Laken.
»Du nimmst das andere Zimmer«, sagt sie rasch. »Du kannst noch sechs Stunden schlafen. Dann fahren wir hinauf nach Pasvikdalen. Eirik und die anderen freuen sich, daß du kommst.«
Mein Blick fällt auf eine Geige. Sie liegt auf einem Bücherregal, mit dem Bogen sorgsam daneben. In einer Ecke lehnt der Geigenkasten. Jetzt sehe ich auch den Notenständer. Ich trete näher, Brahms’ zweite Violinsonate ist aufgeschlagen.
»Du meine Güte! Spielst du Geige?« sage ich überrascht.
Sie macht eine verlegene Geste.
»Die A-Dur-Sonate gehört zum Schönsten, was Brahms geschrieben hat«, fahre ich fort.
»Ich bin nur eine Amateurin«, sagt sie. »Ich spiele für niemanden. Nur für mich.«
»Das tun wir doch letzten Endes alle. Wie lange spielst du schon?«
»Seit meiner Kindheit. Seit ich eines Tages im Radio David Oistrach hörte.«
Sie zögert.
»Erzähl«, sage ich.
»Ich weiß noch genau, wo ich stand. Ich erinnere mich an das Abendlicht. Ich erinnere mich, daß ein Star auf einem Zweig der großen Birke saß. Ich weiß noch, daß Marianne direkt hinter mir stand.«
»Was spielte er?«
»Das Violinkonzert von Tschaikowsky. Mit dem Moskauer Sinfonieorchester. Es war auf Mittelwelle und ständig gestört durch Rauschen und Pfeifen. Aber die Töne kamen an. In der Wiederholung …«
»Ich weiß genau, wo du meinst! Direkt nach dem Nebenthema, nicht wahr? Wo sich die Musik durch mehrere Tonarten moduliert? Wo der Ton der Geige hoch und dünn wird?«
»Genau«, sagt sie freudestrahlend. »Woher weißt du das?«
»So etwas weiß man. Einer der großen, magischen Augenblicke. Manchen Geigern gelingt es, die Innigkeit so wiederzugeben, daß es nicht süßlich klingt.«
»Ja, und Oistrach spielte so
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