Die Frau im Tal
psychisch labil. Sie steckten in ihren Problemen fest. Sigrun ist anders. Den Widerstand, der ihr entgegengebracht wurde, konnte sie mit einem gewissen Abstand betrachten. Sie drückt die Zigarette im übervollen Aschenbecher aus.
»Über all das müssen wir ein andermal weiterreden«, sagt sie. »Ich möchte mehr erfahren über dich und Marianne, dich und Anja. Noch erscheint es unwirklich, daß sie nicht mehr leben. Wenn ich dich so dasitzen sehe, mir direkt gegenüber, erscheint es ebenfalls unwirklich, daß du sie so gut kanntest. Ich will es einfach noch nicht wahrhaben, daß sie tatsächlich tot sind.«
Sie ist zum Umfallen müde und steht auf, sagt, daß sie duschen geht. Das macht sie immer nach dem Nachtdienst, sagt sie. Das ist gut für die Muskeln. Gut für die Nerven. Alte Erinnerungen melden sich. Die zwei Schlafzimmer nebeneinander. Der Bademantel, in dem sie plötzlich auftaucht. Die nackten Füße, die mir zeigen, daß sie immer noch jung ist. Ich bin der Schwager, von dessen Existenz sie erfahren hat. Als sie aus der Dusche kommt, lächelt sie mir zu.
»Du solltest auch duschen. Das Wasser beruhigt die Nerven. Deiner Wunde schadet es nicht. Du wirst dich gut fühlen danach.«
Ich tue, was sie sagt.
In der Dusche bleibe ich unter den Wasserstrahlen stehen, bis das Wasser kalt wird.
Sie ist nicht mehr da, als ich wieder herauskomme.
Ich gehe in das andere Schlafzimmer und lege mich ins Bett.
Aber ich kann nicht einschlafen. Sie ist auf der anderen Seite der Wand. Einige Zentimeter von mir entfernt. Ich denke nach über das, was sie erzählt hat. Ich denke an Rebecca, die weit unten in Oslo soviel über sie herausgefunden hat. Ich höre, wie sie hustet, und das erinnert mich an Marianne.
Ich blicke mich um in dem weißen Zimmer.
Vom Fenster kommt ein kalter Luftzug, Nordpolkälte. So weit nördlich bin ich jetzt. Marianne baumelt am Strick. Irgendwo in meinem Kopf wird sie immer hängen. Was würde Marianne zu meinem Zusammentreffen mit Sigrun sagen?
Dann schlafe ich doch ein. Und als ich wach werde, sitzt Sigrun auf der Bettkante, ganz still, und wartet, bis ich die Augen öffne.
»Bist du jetzt wach?« sagt sie mit einem Lächeln, als sie merkt, daß ich sie anschaue.
Ich nicke. Lächle zurück.
»Hast du einen schweren Kopf?« fragt sie. »Fühlst du dich zerschlagen?«
»Nicht mehr als gewöhnlich. Wieviel Uhr ist es?«
»Bald drei Uhr nachmittags. Du hast zum Glück sechs Stunden geschlafen, das hattest du nötig.«
»Und du hast Brahms geübt, ohne daß ich es hörte?«
»Nein. Ich habe deinetwegen darauf verzichtet. Aber esist schön, hier zu üben. Wenn das Geschäft unten schließt, ist niemand mehr im Gebäude. Manchmal habe ich bis zum frühen Morgen gespielt. Geht es dir auch manchmal so, daß du nicht aufhören kannst zu üben?«
»Ja. Das ist ein merkwürdiges Gefühl. Es erinnert mich an die Bedeutung, die die Musik in meinem Leben hat. Marianne sagte manchmal, ich würde älter wirken, wenn ich in der Musik bin.«
»Das hat sie gesagt? Das ist gut ausgedrückt. Du bist im übrigen nicht so jung, wie du aussiehst. Aber jetzt mußt du dich anziehen. In ein paar Stunden wirst du für uns spielen.«
Hinein in die Wildnis
Es ist Nachmittag, als wir im alten Lada des Distriktsarztes am Bjørnevann entlang nach oben fahren. Sigrun Liljerot trägt einen weißen Wollpullover und enge Jeans. Sie ist mit mir umgesprungen wie eine große Schwester. Sie hat auf die Uhr geschaut und mir gesagt, ich solle mich beeilen. Wir haben meinen schweren Koffer im Hotel geholt, und ich habe ausgecheckt.
»Fährst du den russischen Wagen wegen der guten Nachbarschaft?«
»Frag die Kommune«, lacht sie. Sie hat beide Hände am Lenkrad und schaut mich nicht an, wenn sie spricht.
Wir passieren Strand und fahren hinauf Richtung Pasvikdalen und Svanvik. Überall weiße Birkenwälder. Dann plötzlich auch Kiefern.
»Dieselben Bäume wie zu Hause«, sage ich. »Trotzdem ist alles anders.«
»In diesem Tal sind wir zwischen Finnland und Rußlandeingeschlossen«, sagt Sigrun. »Wir haben einen riesigen Kiefernurwald. Das könnte ein Paradies sein. Aber siehst du die hohen Schornsteine hinter der Anhöhe im Osten? Das ist Nikel. Die Grubenstadt. Die Lebenserwartung da drüben ist sehr niedrig. Die Bewohner gelten sogar nach sowjetischem Maßstab als arm.«
»Warum ist die Lebenserwartung so niedrig?«
»Wegen der Infektionen der Atemwege. All die Emissionen der Fabriken in der Stadt. Siehst du
Weitere Kostenlose Bücher