Die Frau im Tal
fein, und dabei erreichte er diese Eindringlichkeit, die bis in die dünnsten Nervenbahnen vordringt. Er spielte fast ohne Vibrato. Und ich war zwölf Jahre alt und begriff, daß sich eine neue Welt für mich öffnete, eine erwachsene, erfahrene Welt. Das Besondere war die Erfahrung dieser Schönheit. Und damals erkannte ich, daß etwas fein Aufgebautes trotzdem eine große Kraft haben kann.«
»Aber es gibt noch eine andere Stelle!« sage ich und zeige auf die Noten.
»Ja«, sagt sie begeistert, »und das ist bei Brahms.«
»In der Violinsonate in A-Dur!«
»Im zweiten Satz!«
»Ganz genau.«
»Woher weißt du das?«
»Das ist doch so offensichtlich. Beim letzten Mal, wenn das Hauptthema kommt, nicht wahr?«
»Ja!«
»Der lange Ton.«
»Der nie enden will!«
Wir sind wie zwei Schulkinder auf dem Schulhof. Als hätten wir soeben entdeckt, daß wir den gleichen Schulweg haben, daß wir beinahe Nachbarn sind. Wir lächeln uns glücklich an. Dann setzen wir uns an den kleinen Tisch in der Küche, so wie ich mich vor einem Jahr bei Marianne hingesetzt hatte, bevor ich einzog. Sie zieht eine Packung Zigaretten heraus. Ich tue das gleiche.
»Wir sollten uns hinlegen und schlafen«, sagt sie.
»Müssen wir das?« sage ich. »Wir haben so vieles zu bereden. Unglaublich, daß du auch Musikerin bist!«
»Nein, nein, nicht so. Ich wollte Musikerin werden. Aber mir fehlte der Mut. Ich bin wie gesagt nur eine enthusiastische Amateurin.«
»Warum weißt du noch, daß Marianne damals hinter dir stand?«
»Weil sie immer hinter mir stand und überwachte, was ich tat. Sie war fast achtzehn. Sie war rastlos und suchend. Sie hat dir sicher erzählt, wie sie in der Zeit war.«
»Sie erzählte von der Abtreibung …«
»Ja richtig. Sie entschied sich für das Extrovertierte. Für Feste und Leidenschaften. Für Jungs und Sex. Während mich die Musik introvertiert machte. Ich mußte lange weinen, bis ich eine Geige bekam. Und als ich sie hatte, legte ich sie nicht einmal weg, wenn ich schlief. Sie lag die ganze Nacht neben mir. Ich wollte nur immerzu spielen, und ich lernte schnell. Aber das war gegen den Willen meiner Eltern. Obwohl Vater und Mutter als Akademiker in einem sogenannten kulturellen Haushalt klug und fortschrittlichwaren, galt die Kunst selbst als etwas Verdächtiges, und keine ihrer zwei Töchter sollte sich ernsthaft damit abgeben. Sie hatten Marianne dazu gebracht, Ärztin zu werden, da war sie erst vierzehn. Dasselbe wollten sie bei mir. Deshalb hatten sie eine Heidenangst, ich würde ernst machen, und es war für sie eine echte Bedrohung, daß ich Musikerin werden könnte.«
»Du wolltest es wirklich? Du auch?«
Sie nickt.
»Ich versuchte es. Ich begann am Barratt-Due-Institut, das große, rote Holzhaus unten in Fagerberg, du weißt schon. Musik in allen Ecken, sogar in der Besenkammer stand jemand und übte Geige. Ich trug morgens Zeitungen aus, um Geld für die Stunden zu haben. Ich hatte Stephan Barratt-Due als Lehrer. Einem jungen Mädchen erschien er genauso überragend und schön wie Menuhin. Mit seinem sanften Wesen ermutigte er mich, den Weg, den ich gewählt hatte, weiter zu gehen. Er sagte, ich sei eine große Begabung. Da zogen Mutter und Vater die Zügel straffer. Du hast das sicher selbst erlebt. Daß sogar die liebsten Menschen sich schrecklich benehmen können, ohne zu merken, was sie tun. Sie meinten, es sei zu meinem Besten, daß sie nie an meiner Kunst Anteil nahmen.«
»Waren sie auch nicht bei den abendlichen Schülerkonzerten?«
»Selten. Ich konnte es ihnen ansehen. Wenn ich eifrig über die Musik redete, die ich spielte, wurden ihre Gesichter ganz flach, und sie warfen sich Blicke zu. Wir dürfen nie vergessen, daß es Menschen gibt, die überhaupt nicht an Musik interessiert sind. Und weil es meine Eltern waren, gelang es ihnen, mir mein Selbstvertrauen zu nehmen. Ich war achtzehn, als ich aufgab. Da mochte ich nicht mehr. Ich war zu jung und wehrlos für einen solchen Kampf. Alldie kleinen Stolpersteine, die sie mir in den Weg legten. Der Erwartungsdruck, der ständig zunahm. Die schlecht verhehlten Vorwürfe. Ich begriff schließlich, daß ich keine Wahl hatte. Ich mußte Ärztin werden, auch ich.«
»Du bist sicher ziemlich böse auf sie«, sage ich. »Und auf Marianne auch.«
»Lassen wir das«, sagt sie entschieden.
Wir sitzen am Küchentisch in Sigrun Liljerots Wohnung und reden. Es ist das erste intensive Gespräch zwischen uns. Sowohl Anja wie Marianne waren
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