Die Frau im Tal
Junge fort.
»Darauf spielen.«
»Was willst du darauf spielen?«
Ich fange an, von Rachmaninow zu erzählen. Wir schlendern die Straße entlang, und ich bin so sehr in meinen Gedanken, daß ich nicht merke, wie sehr ich sie provoziere.
»Und für wen willst du hier oben spielen?«
»Für alle«, sage ich. »Ich traf heute im Flugzeug den Direktor für Sydvaranger. Man sollte mit ihm über den Bau einer Konzerthalle reden. Diese Stadt könnte doch ihr eigenes Sinfonieorchester haben.«
»Er verspottet uns!« Der kleine Bursche wirft einen prüfenden Blick in die Runde. Er findet etwas in den Gesichtern der nassen, zerzausten drei Mädchen und vier Jungs, die nicht wissen, was sie von mir halten sollen.
»Nein«, sage ich, begeistert von meiner Idee. Der Alkohol trägt das Seine dazu bei. »Wir könnten der Weltzeigen, daß Varanger nicht nur Eisenerz und Pellets ist! Nicht nur Eisbären und Torfkaten!«
»Idiot!« ruft plötzlich das hübscheste der Mädchen. In ihrem Blick ist etwas Hartes und Erfahrenes. »Kommt in den Norden und meint, er ist was Besseres.«
Der kleine Bursche ist blitzschnell neben mir. Das Mädchen hat ihn aufgestachelt.
»Dann spiel doch mal für uns!« sagt er und packt meine rechte Hand, biegt die Finger nach hinten.
»Paß auf!« rufe ich.
»Auf was?« Er packt mein Handgelenk und schlägt meine Hand auf seine Backe.
»Habt ihr gesehen?« brüllt er. »Er hat mich geschlagen!«
»Ja, wir haben es gesehen!« Eines der weniger hübschen Mädchen zieht den Lippenstift heraus und macht sich bereit.
»Arschficker!«
»Wichser!«
Jemand schlägt zu. Ich weiß nicht wer, spüre nur einen starken Schmerz am Hinterkopf und fliege nach vorne, schlage auf den Asphalt.
»Kirkenes Sinfonierorchester, so ein Quatsch!«
Eines der Mädchen versucht meine Stimme nachzumachen: »Weiß jemand ein Klaviergeschäft in der Nähe?!«
»Klar doch!« sagt der kleine Teufel lachend und fängt an zu laufen. »Gleich um die Ecke ist eins!«
Alles ist möglich. Ich spüre eine Leichtigkeit, wie ich sie seit der ersten und der letzten Woche mit Marianne nicht mehr empfunden habe. Ich liege auf dem Boden, und der Alkohol singt in meinen Adern. Der Kopf hämmert. Der Schmerz legt sich über alle Gedanken. Es tut gut, hier zuliegen. Der Schmerz ist in jedem Fall besser als die Gedanken. Hier kann ich Rachmaninow einüben, mit oder ohne Klavier, wenn das so schwierig sein sollte.
Ein Polizist mit dem kleinsten Gesicht und der größten Schirmmütze blickt auf mich herunter, als würde ich im Kinderwagen liegen, und sagt mitfühlend:
»Es regnet. Sie können nicht hier liegenbleiben.«
Aus seinem Blick und seiner Stimme entnehme ich, daß ich übel aussehe. Jetzt muß ich zeigen, wie nüchtern ich sein kann. Jetzt muß ich aufstehen und klar reden. Da erinnere ich mich plötzlich, was passiert ist.
»Sie haben mich zusammengeschlagen«, sage ich.
»Wer?«
»Eine Gruppe Jugendlicher.«
»Verdammtes Pack. In dieser Stadt kann man sich nicht mehr sicher fühlen. Im übrigen sind der Herr auch noch nicht sehr alt, nehme ich an.«
»Älter als Sie glauben.«
»Und das bedeutet?«
»Neunzehn. Bald zwanzig.«
»Ich bin fast zweiunddreißig«, sagt der Polizist mit einem Lächeln. »Ich muß Sie bitten, mitzukommen auf die Polizeistation.«
Ich stehe auf. Das Blut läuft mir von der Stirn.
»Nein, zum Krankenhaus«, sagt der Polizist erschrokken.
Die Frau im Tal
Als hätte ich es gewußt. Daß sie im Krankenhaus ist. Als hätte Sigrun Liljerot die Karten gemischt, und ich habe eine davon gezogen, ohne ihre Bedeutung oder ihren Wert zu kennen. Sie sieht mich zuerst.
»Aksel Vinding«, sagt sie mit Anjas tiefer Stimme.
Ich sehe, daß sie beunruhigt ist. Die Worte sprudeln nervös aus ihrem Mund. Sie weiß natürlich, daß ich morgen ein Konzert an der Volkshochschule geben werde, denke ich.
»Was ist denn mit dir passiert?«
Ich liege auf der Trage und weiß, daß ich nicht nüchtern bin, daß die Augen tränen, daß ich stinke und naß bin. Ich weiß, daß ich an der Stirn blute. Sie ist bereits dabei, die Wunde zu säubern.
»Sie haben mich zusammengeschlagen. Eine Gruppe Jugendlicher. Sie haben es nicht böse gemeint.«
»Nein, das sehe ich«, lacht sie. »Es ist nur eine Platzwunde seitlich am Kopf. Und am Hinterkopf wird es wohl eine Beule geben.«
Sie will ganz genau wissen, wie es passiert ist. Ich erzähle, woran ich mich erinnere, und mir wird klar, wie dumm ich mich benommen
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