Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot S. Baumann
Vom Netzwerk:
heißt?«
    »Nein … wieso?« Ihre Großtante goss die Nudeln ab und richtete sie auf einer Platte an.
    »Nur so.«
    Anouk überlegte kurz, ob sie ihrer Großtante von der Frauenstimme am Wassergraben erzählen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Eine Verrückte in der Familie reichte vollkommen!

    Der junge Mann mit der unmöglichen Krawatte scheiterte schon bei der dritten Frage des Ratespiels, das im Fernsehen lief. Anouk grinste schadenfroh. Sie griff nach ihrem Glas. Es war leer – ebenso wie die Flasche, bereits die zweite, die sie praktisch allein ausgetrunken hatte. Sie warf einen Blick zum Sessel hinüber, in dem ihre Großtante friedlich schnarchte. Anouk erhob sich leise und ging in die Küche. Der Kühlschrank war gut gefüllt, enthielt aber nur Esswaren. In den Schränken brauchte sie erst gar nicht nachzusehen. Valerie Morlot war mehr der Tee-Typ und hatte den Weißwein wahrscheinlich nur wegen ihr gekauft.

Der Höchste schlug;
er wird sich auch der elend
und betrübten Armen
nach seinem väterlichen Brauch,
nach seiner Huld und Gnad erbarmen.
Wer aber davon hört und spricht,
verdamme ja und richte nicht!

    Anouk verdrehte die Augen, als sie Valerie das Gedicht durch die offene Küchentür hindurch rezitieren hörte. Schiller? Goethe? Sie kannte sich mit Lyrik nicht besonders gut aus. Doch als sie wieder in die Wohnstube trat, schien ihre Großtante noch immer zu schlafen. Anouk zog verblüfft die Augenbrauen hoch.

Liegt nicht ein festes Eis in Gründen?
Bedecket nicht anjezt ein tief gefallner Schnee
die grün und finstern Tannen-Wälder,
die sonst mit Klee geschmückten Felder?

    Was zum Teufel ging hier vor? Valerie hatte eine Hand erhoben und schwenkte sie im Rhythmus der Verse, die sie mit verstellter Stimme und geschlossenen Augen vor sich hin murmelte.
    »Tati?« Anouk berührte ihre Großtante sanft an der Schulter. »Seit wann magst du denn Gedichte?«
    Valeries Gesichtszüge waren verzerrt. Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn, die Augenlider flatterten. Plötzlich öffnete sie den Mund und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Anouk zuckte zusammen und stieß gegen den Beistelltisch. Das leere Weinglas, das darauf stand, fiel zu Boden und zerbrach mit einem hässlichen Klirren. Anouk starrte mit schreckgeweiteten Augen auf die Bescherung. Doch ihre Großtante reagierte nicht, erst als die Werbung einsetzte, öffnete sie die Augen.
    »Oh, Pause, dann gehe ich mal aufs Klo.« Mit diesen Worten rappelte sie sich aus ihrem Sessel hoch und steuerte, als ob nichts gewesen wäre, Richtung Bad.
    Anouk blickte ihr verstört nach, dann lief sie Valerie hinterher und riss die Badezimmertür auf.
    »Was ist mit dir?«, rief sie mit sich überschlagender Stimme. Ihre Großtante stand vor dem Waschbecken und seifte ihre Hände ein.
    »Was soll denn mit mir sein?«, fragte sie, griff nach einem Handtuch und drehte sich um.
    »Das frage ich dich!« Anouks Stimme zitterte. »Du hast ein Gedicht deklamiert … und danach laut geschrien.«
    Valerie zog spöttisch einen Mundwinkel nach oben und schüttelte den Kopf.
    »Sei nicht albern, Anouk. Ich kann Poesie nicht ausstehen. Und weshalb sollte ich schreien?« Sie wandte sich zum Spiegel und steckte sich eine widerspenstige Strähne in ihren Dutt zurück. »Du solltest weniger trinken, Schatz!«
    Anouk schluckte. »Aber …« Sie brach ab. Hatte sie etwa geträumt?
    »Wenn du erlaubst, möchte ich jetzt meine Notdurft verrichten«, sagte Valerie. »Wenn du also bitte die Tür schließen würdest.«
    Anouk fasste sich an die Stirn. »Ja, natürlich.«
    Sie drehte sich um.
    »Geh doch zu Bett, Liebes«, sagte ihre Großtante in einem Ton, wie man ihn gerne bei Verwirrten anschlug.
    Anouk nickte. »Ja, ich denke, das wäre eine gute Idee.«
    »Bis Morgen, Kleine. Wird schon wieder.«
    Ihre Großtante zwinkerte ihr zu und zog sich das Kleid über die Hüften. Anouk beeilte sich, aus dem Bad zu kommen.

    »Das macht dann dreiundfünfzig Franken fünfzig.«
    Die Frau hinter dem Tresen des Quartierladens warf Anouk einen prüfenden Blick zu. Eine Flasche Amaretto und ein Päckchen Zigaretten waren vermutlich nicht der übliche Morgeneinkauf in Seengen. Doch Anouk konnte darauf keine Rücksicht nehmen. Sie brauchte unbedingt einen Schluck Alkohol. Dringend!
    Die Nacht war alles andere als erholsam gewesen. Wirre Träume hatten sie gequält. Doch sobald sie die Lider geöffnet hatte, waren ihr die Bilder entwischt wie eine Horde flinker

Weitere Kostenlose Bücher