Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Wiesel.
Aus dem Zimmer ihrer Großtante war noch kein Laut gedrungen, als Anouk beschlossen hatte, einen Morgenspaziergang durchs Dorf zu unternehmen. Sie zog ihren Jogginganzug und die Turnschuhe an und ging auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Über dem See waberten weiße Dunstschleier. Die Luft war noch kühl, doch der Wetterbericht hatte wiederum einen heißen Sommertag angekündigt.
Anouk hatte hämmernde Kopfschmerzen. Sie befühlte die Narbe auf ihrer Stirn. Der Schorf war fast schon zur Gänze abgefallen, trotzdem versuchte sie, den noch vorhandenen Rest mit einer Haarsträhne abzudecken. Die Schramme musste ja nicht sofort von jedermann bemerkt und begutachtet werden.
Das Dorf hatte sich nicht sehr verändert. Die gleichen schmucken Einfamilienhäuser, weißen Gartenzäune und Blumenbeete wie zu Anouks Kinderzeit. In der Luft lag der Duft von frisch gemähtem Gras, Mist und heiler Welt.
Der Tante-Emma-Laden hatte noch geschlossen. Anouk setzte sich auf die Bank vor dem Schaufenster und beobachtete die Vorbeigehenden: Schüler, ein paar junge Mütter mit Kinderwagen, eine Frau mit einem schmutzig grauen Pudel an der Leine und der Postbote auf seinem gelben Mofa. Sie linste zur Kirchturmuhr. Noch eine Viertelstunde, bis das Geschäft öffnen würde. Sie schlang die Arme um die Knie und legte ihren Kopf darauf.
Was für eine bescheuerte Idee zu meinen, ein Aufenthalt in diesem Kaff würde ihr etwas bringen! Sie war kaum einen Tag hier und langweilte sich schon zu Tode.
Du aber frommes Weib,
ruh in der kühlen Erde,
bis dich dein Lebens-Fürst
zur Freud erwecken werde.
Anouks Kopf schnellte nach oben. Vor ihr stand ein Mädchen mit einem Schultornister auf dem Rücken und starrte mit leerem Blick auf einen Punkt unterhalb von Anouks Brust.
»Was hast du gesagt?« Anouks Stimme zitterte, und sie griff nach der Hand der Schülerin. Die Kleine löste ihren Blick von Anouks Trainingsjacke und runzelte die Stirn. »Was hast du da gerade gesagt?«, fragte sie nochmals.
»Lassen Sie mich gefälligst los!«, schrie das Mädchen und entwand sich ihrem Griff. »Ich darf nicht mit Fremden sprechen!«
Es drehte sich um und rannte davon. Anouk starrte ihm verblüfft hinterher. Was ging hier vor? Zuerst die Frauenstimme am Wassergraben, dann Tatis Rezitation vor dem Fernseher und jetzt diese kleine Göre. War das alles nur Zufall? Oder reine Einbildung? Wurde sie langsam verrückt? Die Ladentür öffnete sich, und eine mollige Frau um die fünfzig stellte einen Korb mit roten Äpfeln vor die Eingangsstufen. Anouk sprang auf und floh in das Geschäft.
Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee lag in der Luft, als sie eine halbe Stunde später durch die Haustür trat. Aus der Küche drang Klaviermusik von Debussy, dem Lieblingskomponisten ihrer Großtante. Anouk lief ins obere Stockwerk, trank einen Schluck Amaretto, verstaute die Flasche danach in ihrem Koffer und ging in die Küche hinunter.
»Hallo, Liebes. Seit wann bist du denn Frühaufsteherin?«
Valerie hatte den Tisch gedeckt und häufte Rühreier auf zwei Teller.
»Ich habe schlecht geschlafen«, murmelte Anouk und setzte sich. Sie goss sich eine Tasse Kaffee ein und hoffte, ihre Großtante würde nicht riechen, dass sie kurz zuvor Alkohol getrunken hatte.
»Oh, das tut mir leid, Schatz.« Valerie strich sich über ihre tadellose Frisur. »Das ist sicher nur der Jetlag.«
Anouk unterließ es, ihre Großtante darauf hinzuweisen, dass sie gestern nur eine knappe Stunde unterwegs gewesen war. Am liebsten hätte sie sich irgendwohin verkrochen, wo weder kleine Mädchen noch alte Tanten herumgeisterten und auch keine ominösen Stimmen zu hören waren. Das Ganze war ihr unheimlich. Und obwohl sie sonst immer gerne allem auf den Grund ging, wusste sie in diesem Fall nicht so recht, ob sie ihrer grundsätzlichen Neugierde nachgeben und den merkwürdigen Vorfällen wirklich nachspüren sollte. Was, wenn sich dabei herausstellte, dass nur sie diese Stimmen hörte? Ihr Kopf nicht mehr richtig funktionierte und sie seit ihrem Unfall an einer Art Realitätsverlust litt?
»Wenn du Lust hast, können wir heute einen Ausflug machen«, unterbrach Valerie Anouk in ihrem Gedankengang. »Zum Beispiel das Kloster Baldegg besichtigen, oder wir gehen einkaufen.« Sie warf einen abfälligen Blick auf Anouks ausgeleierten Jogginganzug. »In Lenzburg gibt es ein paar hübsche Geschäfte.«
Anouk gähnte. Obwohl sie kein allzu großes Verlangen verspürte, mit ihrer Großtante
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