Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot S. Baumann
Vom Netzwerk:
und vertraute auf Gott.
    Er würde den Arzt aus der Abtei Baldegg hinauszerren, ganz gleich, wie sehr sich dieser auch sträubte oder wie viel er für seine Dienste verlangte. Johannes biss die Zähne zusammen, als ihm der wohlbekannte Schmerz durch den Brustkorb schoss. Sein linker Arm wurde taub, und beinahe entfielen ihm die Zügel. Trotz der eisigen Kälte lief ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht, brannte in den Augen und nahm ihm die Sicht. Nebel hatte sich gebildet und zog in Schwaden über den See. Das jenseitige Ufer war nur noch schemenhaft zu erkennen. War das dort drüben nicht der Kirchturm von Meisterschwanden? Bald hätten sie wieder festen Boden unter den Füßen. Johannes gab dem Pferd die Sporen. Er musste sich beeilen.
    Der Krampf kam unvermittelt, drückte ihm den Brustkorb zusammen und ließ seinen Atem stocken. Ein Brennen gleich glühenden Kohlen jagte durch seinen Kopf. Johannes öffnete den Mund zum Schrei, doch es kam nur ein Krächzen über seine Lippen. Die Welt um ihn herum verdunkelte sich schlagartig. Er griff sich ans Herz, riss dabei die Zügel nach oben und brachte den Trakehner dadurch ins Straucheln. Das Pferd brach nach links aus, seine Hufe schabten hilflos über das Eis. Es schlitterte und stürzte. Gemeinsam schlugen sie mit einem dumpfen Knall auf der Eisfläche auf.
    Johannes fühlte, wie sein Oberschenkel brach, hörte, wie der Trakehner panisch wieherte … und hörte das Eis. Es knirschte und krachte, dann öffnete der See sein dunkles Maul unter ihm und verschlang die Eindringlinge.

20
    Seengen, 2010
So kurz war meine Reise in der Welt,
doch lang ist dieser Gang im Nebel.
Mein Sein wurd von dem Teufel dargestellt,
mein Gehn trug böser Wille Knebel.

Die Meinen sind an fremder Brust,
mein Name floh und ward vergessen,
an einer einzgen Nacht voll Lust,
wurd meiner Sünden Krug bemessen.

Drum kann ich nicht zu meinen Lieben,
ein Fluch treibt mich ins Nimmertal,
bis mich Erbarmen frommer Erden
erlöset von der Seelenqual.

Du, Schwester meines eignen Blutes,
geh hin und suche mein Gebein,
und meines Lebens einzig Gutes
soll immer dir im Herzen sein.

    Anouk erwachte wie aus einer Art Trance und schaute verblüfft auf die altmodisch klingenden Verse. Poesie, schon wieder! Sie fröstelte plötzlich. Diese Zeilen mussten eine Botschaft sein, aber was bedeutete sie? Interpretiere, Anouk!, hörte sie ihren ehemaligen Deutschlehrer sagen. Spüre den Worten nach. Versetz dich in das lyrische Ich. Empathie, Anouk, Empathie! Finde den richtigen Schlüssel, und das Gedicht wird dir seinen tieferen Sinn offenbaren.
    »Ja, ja«, knurrte sie. »Als wenn das so einfach wäre.«
    Sie schlug ein neues Blatt ihres Spiralblockes auf und wartete. Doch ihre Hand blieb ruhig, es wurden ihr keine weiteren Verse mehr aus der Geisterwelt diktiert. Ihr erster Impuls war, Max anzurufen, doch als sie zum Handy griff, stockte sie. Nein, er hatte zu arbeiten, und sie würde ihn heute Abend sehen. Dann könnte sie ihm das Gedicht immer noch zeigen. Vielleicht wäre sie bis dahin sogar schon hinter den Sinn der Zeilen gekommen.
    Anouk stand auf, um sich ein Glas Saft aus der Küche zu holen. Als sie am Wohnzimmer vorbeikam, hörte sie erneut Debussy. Ihre Großtante saß auf dem Sofa, hatte die Hände im Schoß gefaltet und starrte zum Fenster hinaus.
    »Tati? Alles in Ordnung?« Valerie wandte den Kopf. Ein leichtes Lächeln spielte um ihre Lippen. Anouk runzelte die Stirn und trat näher. Sie berührte sie sanft an der Schulter. »Tati?«
    Ihre Großtante blinzelte. »Oh, Liebes. Heiß heute, nicht wahr?«
    Anouk nickte und setzte sich neben sie. »Alles in Ordnung?«, fragte sie erneut.
    »Aber ja doch«, erwiderte Valerie, »alles bestens. Weshalb fragst du?«
    »Du wirktest so … geistesabwesend. Soll ich dir eine Erfrischung holen?«
    Ohne die Antwort ihrer Großtante abzuwarten, stand sie auf und wollte in die Küche gehen.
    »Du siehst das Kind auch, nicht wahr?« Anouk schnellte herum und schnappte nach Luft. »Ich habe also recht«, lächelte Valerie und fuhr sich über die Augen. »Macht dir das Angst?«
    Anouk schüttelte den Kopf. Sie war außerstande, sich zu bewegen. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Tati sah die Kleine also auch? Aber wieso hatte sie ihr gegenüber dann nie irgendetwas darüber verlauten lassen?
    »Komisch«, stellte ihre Großtante fest. »Ich habe mich auch nie gefürchtet.«
    »Nie?«, echote Anouk. »Wie oft hast du das Mädchen denn

Weitere Kostenlose Bücher