Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
als er sich auf halbem Weg zu seinem Domizil befand und spürte, wie seine Oberschenkelmuskulatur zu protestieren begann. Er dachte an ihre Exkursion ins Kirchenarchiv zurück. Anouk hatte sich so viel davon versprochen, aber leider nicht gefunden, wonach sie gesucht hatte. Dafür war sie jedoch auf eine neue Spur gestoßen, von der Max nicht so recht wusste, was er davon halten sollte. Auf der einen Seite interessierte es ihn tatsächlich zu erfahren, was es mit der Frau im roten Kleid auf sich hatte. Auf der anderen Seite befürchtete er noch immer, dass sich Anouk in die ganze Sache hineinsteigerte und dieser aufgrund ihres Unfalltraumas mehr Bedeutung beimaß, als ihr zukam. Er war sich auch nicht sicher, welche Erklärung ihm mehr zusagte. Die übernatürliche oder die wissenschaftlich-medizinische? Und würde er sowohl mit der einen als auch mit der anderen gleichermaßen zurechtkommen?
Auf alle Fälle genoss er es ungemein, so viel Zeit mit Anouk verbringen zu können. Ihre anfängliche Reserviertheit ihm gegenüber hatte sich verflüchtigt. Sie blühte mit jedem Tag mehr auf, und von der deprimierten, traurigen Frau, die vor ein paar Tagen in Seengen angekommen war, war kaum mehr etwas zu bemerken. Nur manchmal glitt ein Schatten über ihr Gesicht. Vermutlich dann, wenn sie an ihre verstorbene Freundin dachte. Und noch etwas spürte er: Anouk öffnete sich ihm immer mehr, so dass er sich mittlerweile sicher war, dass auch sie ihm weit mehr als reine Sympathie entgegenbrachte. Max lächelte und genoss den Fahrtwind, der ihm die heiße Stirn kühlte. Sein Handy piepste, und er stoppte in einer Hauseinfahrt. Doch als er die Nummer auf dem Display erkannte, verflog sein Lächeln augenblicklich, und er seufzte. Dieses Gespräch war längst überfällig. Er atmete tief durch und meldete sich.
Liebe Mama,
entschuldige, dass ich schon so lange nichts mehr von mir …
Anouk riss das Blatt aus dem Block, zerknüllte es und fing neu an.
Liebe Mama, lieber Papa,
mir geht es hier ausgezeichnet! Ich denke kaum noch …
Entnervt strich sie die Sätze durch und kaute an ihrem Kugelschreiber. Sie stand vom Bett auf, trat ans Fenster und schaute in den Garten hinunter. Unwillkürlich schweifte ihr Blick zu der Brombeerhecke hinüber. Ob Désirée ihr noch einmal erscheinen würde? Wenn sie doch nur ein paar Worte mit der Kleinen wechseln könnte, würde ihnen das sicher weiterhelfen. Doch so sehr sie es sich auch wünschte, es tauchte kein Mädchen mit roten Locken in einem weißen Nachthemd auf. Anouk schüttelte enttäuscht den Kopf. Sie überlegte kurz, ob sie schwimmen gehen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Seit einer Stunde hatte sie unerträgliche Kopfschmerzen. Vermutlich würde es bald einen Wetterumschwung geben. Sie ging ins Bad, schluckte zwei Aspirin, warf sich abermals aufs Bett und begann, erneut zu schreiben.
Liebe Mama, lieber Papa,
die Zeit fernab von meinem sonstigen Alltag tut mir gut …
Du hast mich scharf versucht.
Ich hatte genug zu tun,
dass ich hier nicht gefehlt.
Doch kann mein Geist nicht ruhn.
Anouk stockte und sah auf die Worte, die sie soeben geschrieben hatte. Sie? Nein, diese Zeilen hatte nicht sie verfasst! Die musste ihr jemand anders eingegeben haben. Aber wer zum Teufel versuchte, mit ihr Kontakt aufzunehmen? Dass es Julia sein könnte, glaubte Anouk nicht mehr. Denn Julia hätte Klartext geredet und keine verworrenen Verse vom Stapel gelassen. Das kleine Mädchen? Unwahrscheinlich. Ein Kind in diesem Alter wäre zu solchen Formulierungen nicht fähig. Anouk war sich deshalb sicher, dass es sich nur um die Zinnengängerin handeln konnte. Sie fröstelte, wurde dann unvermittelt wütend und schleuderte den Block gegen die Wand.
»Was willst du eigentlich von mir?!«, schrie sie ins leere Zimmer. Tränen brannten in ihren Augen. »Ich tue doch mein Bestes!« Sie riss ihr T-Shirt hoch. »Sieh!« Sie zeigte auf ihre Abschürfungen. »Ist das noch nicht genug? Und Max ist beinahe umgekommen. Lass uns doch endlich in Ruhe, verdammt noch mal!« Anouk zitterte am ganzen Leib. Sie barg ihr Gesicht in den Händen. »Ich kann das nicht mehr«, presste sie zwischen den Zähnen hervor, »es ist genug!«
Ein wildes Krächzen ließ sie aufblicken. Sie erhob sich, ging ans Fenster und sah hinaus. Auf dem Rasen vor den Brombeerbüschen kauerte die getigerte Katze. Sie hatte eine Krähe im Maul, die wild mit den Flügeln flatterte. Die Katze blickte zu Anouk hoch, peitschte mit ihrem
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