Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Wangen.
»Unsere Söhne«, wimmerte sie, »sie werden sterben.«
Johannes packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Seid still!«, schrie er wild und das Blut schoss ihm ins Gesicht. »Das lasse ich nicht zu! Hört Ihr? Das lasse ich nicht zu!«
Er drehte sich um, riss das Zaumzeug vom Haken und zog es dem Trakehner über den Kopf. Dann warf er dem Tier die Schabracke auf den Rücken, stülpte den Reitsitz darüber und zurrte den Sattelgurt fest. Sein Herzschlag setzte für einen Moment aus, und ihm wurde schwarz vor Augen. Er atmete zweimal tief durch und holte sich aus der Sattelkammer eine Pelerine und eine Pelzmütze. Anschließend stieg er auf einen Holzschemel und schwang sich von dort aus in den Sattel.
»Sagt dem Meier, er soll den Schlitten anspannen und gegen Baldegg fahren. Ich werde in der Zwischenzeit den Arzt holen. Wir treffen uns im Gasthof ›Zum Bären‹. Er soll dort auf uns warten. Ich reite über den zugefrorenen See, das geht schneller. Und jetzt öffnet mir das Tor, Madame … und betet! Bei allem, was Euch heilig ist, betet!«
Eine Magd entzündete die Kerzen im Palas, warf zwei Holzscheite ins Feuer und knickste.
Es war vier Uhr nachmittags und begann bereits zu dämmern. Der Schneefall hatte endlich aufgehört. Vor einer Stunde war Johannes losgeritten, kurz danach hatte auch der Meier das Schloss verlassen. Er musste mit dem Schlitten einen Umweg über die Dörfer nehmen, da das Gefährt zu schwer war, um über die Felder zu fahren, und bereits in der ersten Schneewehe stecken geblieben wäre.
Ob es Johannes gelänge, den Arzt zum Aufbruch zu bewegen? Bernhardine lief auf und ab und schaute immer wieder zur Pendule, obwohl sie wusste, dass es noch Stunden dauern würde, bis die Erwarteten einträfen.
Gerold saß vor dem Kamin und las in einem Buch. Marie hockte zusammengesunken auf einem Stuhl vor dem Feuer, eine Strickarbeit in den Händen. Sie wischte sich ab und zu mit einem Taschentuch über die Augen, war aber sonst gefasst, wofür Bernhardine ihr äußerst dankbar war. Es wäre über ihre Kräfte gegangen, sie trösten zu müssen, wo sie doch schon genug mit sich selbst zu tun hatte.
Außer Marie und Johannes wusste noch niemand von dem bösen Krankheitsverdacht. Es hätte sicher große Unruhe unter den Bediensteten ausgelöst. Sofern der Arzt die Diagnose jedoch bestätigte, müssten sie unverzüglich handeln. Obwohl ihr Gerolds Anwesenheit verhasst war, konnte sich Bernhardine weder dazu aufraffen, in ihre Gemächer zu gehen, noch die Zeit bis zu Johannes’ Rückkehr bei den Zwillingen zu verbringen. Jeder Blick, den sie auf ihre Söhne warf, schnitt ihr tief ins Herz. Sie hatte vorhin nach Cornelis geschickt, doch er hatte sich entschuldigen und ihr ausrichten lassen, er stecke mitten in der Arbeit am Porträt. Bernhardine hatte sich überlegt, ihm per Boten einen Brief zu überbringen. Aber was hätte sie ihm schreiben sollen? Liebster, pack deine Sachen und flieh – die Blattern sind im Schloss! Wenn sie sich angesteckt hatte, dann auch er! Peter der Zweite von Russland war an den Pocken gestorben. Diese Geißel Gottes machte keinen Unterschied, ob einer auf weicher Seide oder im Stroh schlief. Doch Cornelius war jung und gesund, er könnte die Krankheit überstehen. Und selbst ein Maler mit Narben blieb immer noch ein Maler. Im Gegensatz zu ihr, die nichts anderes hatte als ihre Schönheit. War die dahin, würde Johannes sie verstoßen.
Als hätte Gerold ihre Gedanken erraten, stand er plötzlich auf und rief: »›Denn Gott hat die Engel, die gesündigt haben, nicht verschont, sondern hat sie mit Ketten der Finsternis zur Hölle verstoßen und übergeben, dass sie zum Gericht behalten werden!‹ Das ist aus dem Petrusbrief, Madame.«
Marie öffnete den Mund, doch Bernhardine gebot ihr mit einer Handbewegung zu schweigen.
»Beachte ihn nicht!«, flüsterte sie. »Er ist es nicht wert.«
Ihr Blick ging erneut zur Uhr. Halb fünf.
Johannes war gut zwei Kilometer am Seeufer entlanggeritten, bevor er den Sprung aufs Eis wagte. Der Trakehner kam ins Schlittern, rollte die Augen und bleckte die Zähne. Doch im letzten Moment gewann er sein Gleichgewicht wieder. Nachdem er sich an den seltsamen Untergrund gewöhnt hatte, flogen seine Hufe über die weiße Fläche.
Unter der Schneedecke knirschte das Eis. Johannes wagte nicht, nach verräterischen Rissen Ausschau zu halten, stattdessen beugte er sich tiefer über den schweißnassen Hals des Warmblüters
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