Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
musste sich ablenken. Mit dem Fuß wippte sie zum Rhythmus der dröhnenden Rockmusik. Doch unwillkürlich kehrten ihre Gedanken zu den merkwürdigen Versen und den Geschehnissen der letzten Tage zurück. Es war alles so verworren, schien aber doch irgendwie miteinander zusammenzuhängen.
Schwester meines eigenen Blutes. Waren diese Worte der Schlüssel zu allem anderen? Wenn sie davon ausging, dass die Frau im roten Kleid die Verfasserin dieser Zeilen war, würde das bedeuteten, dass sie, Anouk, mit dieser Frau verwandt war. Doch soweit sie wusste, gab es keine Adligen in ihrer Familie. Und die Zinnengängerin war auf alle Fälle eine Blaublütige gewesen. Eine verwandtschaftliche Beziehung würde jedoch erklären, weshalb sich das Kind den Frauen der Morlot-Familie zeigte: ihr, Tati Valerie und ihrer Großmutter Viola. Die Antwort musste im Stammbaum ihrer Familie liegen.
Anouk schaltete den MP3-Player aus, zog die Stöpsel aus ihren Ohren und griff nach ihrem Handy. Sie schaute auf die Uhr. Es war kurz vor fünf. Wenn sie Glück hatte, würde sie ihren Schwager noch zu Hause erwischen.
»Oui, allô?«
»Hi, Schwesterchen!« Anouk lächelte. »Wie geht’s denn so?« In den nächsten Minuten kam Anouk nicht dazu, irgendetwas zu fragen, denn Aimée erzählte ihr von den neuesten Streichen der Zwillinge und den Fortschritten ihres Patenkindes Charlotte.
»Aimée? Entschuldige, wenn ich dich unterbreche. Aber ist Julien noch da? Ich weiß, dass er am Sonntag meist Visite hat, aber vielleicht … Oh, tatsächlich? Dann hol ihn mir doch bitte an den Apparat.«
Während Aimée ihren Mann suchte, realisierte Anouk mit einem Mal, dass sie jetzt ebenfalls mit einem Arzt liiert war. Und noch etwas anderes fiel ihr auf. Dass es in ihrer Familie wie auch in der der Ruflis Zwillinge gab. Ein Zufall? Sie fröstelte plötzlich und zündete sich eine Zigarette an.
»Salut, Beauté, ça va?« Hallo, Schönheit, wie geht es dir?
Anouks Schwager Julien war der Inbegriff des Südfranzosen: charmant, stets gut gelaunt und ein Ausbund an Hilfsbereitschaft. Er brachte sie immer zum Lachen. Aimée hatte wirklich Glück! Und ich? Anouk schüttelte energisch den Kopf und drückte die halb gerauchte Zigarette aus. Es ging jetzt nicht um sie.
»Hör mal, liebster aller Schwager! Du hast für unsere Eltern zu ihrem fünfundzwanzigsten Hochzeitstag doch einen Stammbaum der Morlots anfertigen lassen. Ja, ich weiß, dass ich wie auch alle anderen Familienmitglieder ein eigenes Exemplar erhalten habe, aber das liegt in meinem Loft in Zürich. Ich müsste jedoch ganz dringend etwas wissen. Kannst du das bitte kurz heraussuchen? Ich bringe dir dafür das nächste Mal auch ein Kilo Schweizer Schokolade mit, versprochen.«
Anouk grinste, als sie Juliens Antwort hörte. Er legte den Hörer neben das Telefon. Sie vernahm Kindergeschrei im Hintergrund. Wie schön, eine Familie zu haben und einen Ort, an dem man sich zu Hause fühlte. Und wieder kamen ihr die Tränen. Verdammt, was war nur los mit ihr? Seit wann hatte sie denn so nahe am Wasser gebaut?
»Ja, ich bin noch da. Okay, hör zu. Es geht ums achtzehnte Jahrhundert. Dix-huitième siècle, exact! Lies mir doch bitte mal alle Familienmitglieder vor, die damals in der Schweiz ansässig waren. Und bei den Frauen bitte auch noch deren Geburts- und Todesdaten.«
Anouk lauschte und machte sich fleißig Notizen. Als sie einen Namen hörte, stockte sie, und ihre nackten Arme überzogen sich mit einer Gänsehaut.
»Julien? Wiederhole das bitte noch mal! Ja, genau. Okay. Und die Kinder? Ah, verstehe.« Sie konnte kaum noch den Kugelschreiber halten. Ihre Hand zitterte, als hätte sie Schüttelfrost. »Danke«, krächzte sie, »du hast mir sehr geholfen. Ja, ich komme bald. Gib deinem Nachwuchs einen dicken Kuss von mir. A bientôt. «
Sie starrte auf ihre Notizen. Das war es! Sie hatte die Frau in Rot gefunden.
Franz Ludwig von Diesbach, Freiherr zu Liebistorf, verheiratet mit Amandine von Diesbach, geborene von Morlot ( 1690 – 1748 )
Kinder:
Wilhelm Alexander von Diesbach
Alfonse Peter von Diesbach
Charlotta Louise von Diesbach- von Morlot (1715–1760), verh. mit Karl Melchior von und zu Elfenau
Elisabeth Klara von Diesbach- von Morlot (1720–1772), verh. mit Fritz Christoph von Salis
Und an letzter Stelle:
Bernhardine Amalia von Diesbach- von Morlot ( 1728 -?), verh. mit Johannes von Hallwyl
Anouk schluckte. Bernhardine Amalia! Verheiratet mit diesem Johannes von Hallwyl,
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