Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
den sie auf dem Porträt in der Ahnengalerie des Schlosses gesehen hatte. Das musste die Frau im roten Kleid sein, die Zinnengängerin, die Mutter von Désirée, ihre Blutsverwandte.
Anouk runzelte die Stirn. In keiner Chronik außer dem Stammbaum, den Julien erstellt hatte, wurde erwähnt, dass Johannes nach Viktoria noch eine weitere Ehefrau gehabt hatte. Was war da los?
Die Meinen sind an fremder Brust, mein Name floh und ward vergessen.
Anouk betrachtete das Gedicht und begann zu kombinieren. Der Sinn des Satzes war eindeutig und besagte, dass die Verfasserin von ihren Kindern sprach. Handelte es sich dabei um Désirée? Aber »die Meinen« war Mehrzahl. Konnte es denn sein, dass sie mit der Vermutung, die sie Max gegenüber schon einmal geäußert hatte, richtig lag, und Bernhardines Kinder dieser Viktoria – Johannes’ erster Frau – untergejubelt worden waren? Und man Bernhardines Name aus allen Registern getilgt hatte? Aber wieso? Was hatte die Frau um Himmels willen angestellt, dass die von Hallwyls so mit ihrem Andenken verfahren waren?
Bis mich Erbarmen frommer Erden erlöset von der Seelenqual. Anouk überlegte fieberhaft. Wieso war bei Bernhardine kein Sterbedatum angegeben? Und »frommer Erden«? Was bedeutete das? Hatte man die Frau etwa in ungeweihter Erde bestattet? Und konnte sie deshalb nicht zur Ruhe kommen? Das würde einen Sinn ergeben. Anouk hatte schon mehrere Filme gesehen, in denen es um dieses Thema gegangen war. Zugegeben, das waren Mystery-Schinken gewesen, aber trotzdem. Vor diesem Hintergrund ergab es auf jeden Fall Sinn, dass die Zinnengängerin darum bat, ihre Gebeine zu suchen. Sie brauchte eine richtige Bestattung. Aber wieso hatte man ihr ein christliches Begräbnis verweigert? Was hatte im achtzehnten Jahrhundert als ein so schreckliches Vergehen gegolten, dass man es auf diese Weise geahndet hatte? Ehebruch? Selbstmord? Mord? Sie schauderte.
An einer einzgen Nacht voll Lust wurd meiner Sünden Krug bemessen.
Natürlich, das war es! Es stand wirklich alles da, sie musste es nur richtig interpretieren. Bernhardine hatte offenbar eine Liaison gehabt – eine Nacht voll Lust. Als Anouk an das Porträt dieses Johannes zurückdachte, konnte sie diesen Umstand durchaus nachvollziehen. Der Mann war bedeutend älter als seine Frau gewesen. Ehebruch war damals aber eine schwerwiegende Sünde. Vor allem, wenn eine Frau ihn beging. Ob man Bernhardine deswegen exkommuniziert hatte? Anouk schürzte die Lippen. Aber der Aargau war zu dieser Zeit doch schon reformiert gewesen. Und die Reformierten kannten keine Exkommunikation. Zu diesem Thema würde sie den Pfarrer wohl nochmals bemühen müssen. Sie atmete tief durch und massierte sich den verspannten Nacken. Und jetzt noch der letzte, besser gesagt, der erste Vers.
Mein Sein wurd von dem Teufel dargestellt, mein Gehn trug böser Wille Knebel.
»Das sagt mir nichts, Bernhardine«, flüsterte Anouk und schaute sich unwillkürlich im Zimmer um, als ob dort jeden Moment irgendein Zeichen, etwa eine Flammenschrift an weißer Wand, wie bei Belsazar auftauchen könnte. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Anouk beugte ihren Kopf wieder über die Notizen. Ein Teufel hatte Bernhardines Sein – war damit ihr Leben gemeint? – falsch dargestellt. Also Lügen verbreitet. Und ihr Gehen, sicher der Tod, trug einen Knebel. Mord? Nein, das konnte nicht sein. Wenn sie sich in Erinnerung rief, wie sich die Frau im roten Kleid während des Konzerts von den Zinnen hatte fallen lassen, dann hatte das eher nach Selbstmord ausgesehen. Und Selbstmord galt in jeder Religion als Todsünde. Vermutlich hatte dieser Teufel – ein Mann? – Bernhardines Freitod eher dazu benutzt, ihr ein angemessenes Begräbnis zu verweigern. Ja, das schien logisch. Es fehlten zwar noch einige kleinere Details, aber Anouk war sich sicher, dass sie mit ihren Überlegungen der Wahrheit sehr nahe gekommen war. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, welche Rolle die Familie der Ruflis und speziell der Kurator in dieser Tragödie spielte … die des jugendlichen Helden aber vermutlich nicht.
Schloss Hallwyl, 1746
Die Stunden verstrichen. Marie hatte sich bereits zu Bett begeben, Gerold Bibelstudien vorgeschürzt. Bernhardine saß allein in der riesigen Empfangshalle und wusste nichts mit sich anzufangen. Sie hatte versucht, in Sidonias Gedichten Trost zu finden, den Lyrikband aber bald beiseitegelegt, als ihr die Worte vor den Augen zu verschwimmen begonnen
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