Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
hatten. Zum Sticken war sie zu nervös, bei den Zwillingen konnte sie nicht wachen, weil ihr deren Gewimmer durch Mark und Bein ging und sie in Weinkrämpfe ausbrechen ließ. So saß sie nun abermals in der ungemütlichen Halle, lauschte auf jedes Türenschlagen und wurde fast wahnsinnig dabei. Lediglich Johannes’ Hunde leisteten ihr Gesellschaft. Die beiden waren ebenso unruhig wie sie selbst. Sie schnüffelten in jeder Ecke, legten sich nieder, um nach nur kurzer Zeit wieder aufzustehen und das gleiche Prozedere von vorne zu beginnen.
»Er wird kommen«, sprach sie sich Mut zu. »Es kann nicht mehr lange dauern.«
Die Pendule schlug Mitternacht. Bernhardine erwachte aus ihrer Lethargie und griff nach ihrem Schultertuch. Es war kalt geworden. Das Feuer nahezu niedergebrannt. Ein Klopfen ließ sie zusammenzucken. Endlich! Sie lief zur Tür, schob den Riegel zurück und öffnete. Ein Diener und ein ihr unbekannter Mann standen vor dem Eingang. Beide hatten den Blick gesenkt.
»Wo ist der Herr? Wo der Arzt?«, stieß sie hervor. »Sprecht!«
Die Männer sahen sich verstohlen an. Bernhardine war, als legte sich eine kalte Hand auf ihr Herz. So sah keiner aus, der eine gute Nachricht überbrachte.
»Herrin«, der Diener fing an zu sprechen, »dies ist Jakob, ein Fischer aus Meisterschwanden. Er hat …« Der Bedienstete brach ab und räusperte sich.
»Herrgott!« schrie sie. »So sprecht doch endlich!«
»Er hat …«, der Mann wischte sich über die Stirn, »den Gaul … Verzeihung, das Pferd unseres Herrn eingefangen.«
Bernhardine runzelte die Stirn. »Ja, und? Wo ist mein Mann? Hat er den Arzt mitgebracht?«
Der Diener räusperte sich. »Sie verstehen nicht, Herrin. Der Mann hat das Pferd am Seeufer gefunden. Es hat eine tiefe Schnittwunde in der Flanke, war tropfnass und … ohne Reiter.«
Der Schlosshof war mit Fackeln beleuchtet. Die Szenerie erinnerte Bernhardine an den Tag, an dem man nach Désirée gesucht hatte. Doch damals war Tagesanbruch gewesen, jetzt herrschte tiefe Nacht. Zwanzig Männer standen beisammen und besprachen das weitere Vorgehen. Da sich der Verwalter nicht im Schloss befand, hatte der Stallmeister das Kommando übernommen. Er zählte die Helfer durch und teilte sie in Gruppen ein. Dann marschierten sie durch das offene Schlosstor hinaus in die Winternacht, um ihren Herrn, Johannes von Hallwyl, aus den eisigkalten Armen des Sees zu befreien.
Bernhardine stand in ihrem Zimmer, starrte mit trockenen Augen auf das Geschehen und zupfte an ihren Haaren herum.
Ich verliere alles!, ging es ihr durch den Kopf. In ein paar Tagen, vielleicht schon in wenigen Stunden, sind die Zwillinge tot, dann bin ich ganz allein. Meine ganze Familie ausgelöscht. Und ich trage die Schuld daran.
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und ein wutentbrannter Gerold stürmte herein.
»Hexe!«, kreischte er. »Dirne, Ungläubige! Da seht Ihr, was Ihr angerichtet habt!« Er packte sie grob an den Schultern, drehte sie um und drückte ihr Gesicht gegen die kalte Scheibe. »Meinen Bruder habt Ihr in den Tod geschickt. Verflucht seid Ihr! Verflucht sei Eure ganze Familie!«
»Welche Familie?«, murmelte sie leise.
Gerold ließ sie abrupt los, als hätte er sich die Finger an ihr verbrannt. »Was schwafelt Ihr da?«, zischte er.
Bernhardine lächelte. Es gab nichts mehr zu verheimlichen. Jetzt, da ihr Gatte tot war und ihre Söhne kaum Aussichten hatten zu überleben, spielte es keine Rolle mehr, was aus ihr wurde.
»Die Pocken. Die Zwillinge haben die Blattern. Johannes wollte den Arzt vom Kloster Baldegg holen, damit er ihnen hilft.« Gerold wich entsetzt zurück. »Nicht doch, mein lieber Schwager!« Sie trat einen Schritt näher. »Es ist sinnlos. Wenn die Buben angesteckt sind, dann bin ich es ebenso. Und der Kuss hat das Band zwischen uns beiden besiegelt.«
Gerold keuchte. Er holte aus. Der Schlag traf Bernhardine mitten ins Gesicht und schleuderte ihren Kopf zur Seite. Sie lachte und fasste sich an die Lippen. Ein warmes Rinnsal lief ihr über das Kinn und tropfte auf ihren Busen. Sie betrachtete das Blut nachdenklich und hob den Kopf.
»Es ist nicht blau«, sagte sie sinnend. »Schaut, Gerold, es ist rot, wie das aller anderen Menschen auch.« Sie streckte ihrem Schwager die Hand hin. »Wir sind nichts Besseres als sie … auch Ihr nicht.«
»Wagt es nicht, so mit mir zu sprechen, Hexe!«, schleuderte er ihr entgegen. »Mit Euch kam das Verderben über uns. Gott hat uns gestraft,
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