Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
wieder in alle Richtungen. Endlich hob er seinen Blick und suchte die Mauern ab. Bernhardine winkte mit der Hand und sah, wie sich der Mund des Knaben öffnete und seine Gestalt erstarrte. Er trat noch einen weiteren Schritt nach vorne und riss die Augen auf, dann drehte er sich um und rannte los.
Bernhardine atmete auf. Gott sei Dank! Er würde Hilfe holen. Sie fing an, unkontrolliert zu zittern. Jetzt würde alles gut werden. Der Knabe würde den Stallmeister holen, der wüsste, was zu tun war. Doch halt, der war ja mit den anderen Knechten unterwegs! Hatten sie Johannes denn bereits gefunden? Waren sie sogar schon zurück?
Die Tür zum Palas wurde aufgerissen. Warmes Licht fiel als schmaler Streifen auf den Schnee. Zwei Gestalten stürmten über die Brücke in den Schlosshof. Der Krähenjunge und … ihr Schwager! In Bernhardine zog sich alles zusammen. Nein, wollte sie schreien, nicht Gerold!
Der hatte sich einen Mantel von Johannes über sein Nachthemd geworfen. Also hatte er bereits seines Bruders Kleider in Besitz genommen. Er verlor wirklich keine Zeit. Langsam kam er auf die Mauer zugeschritten, pflanzte sich breitbeinig unter den Zinnen auf und stemmte die Hände in die Hüften.
»Madame«, rief er spöttisch, »was treibt Ihr denn da oben für lustige Sachen? Ist es nicht etwas zu unwirtlich für Versteckspiele?«
Er lachte hämisch und schüttelte den Kopf. Ihr fehlte die Kraft, um ihm eine passende Erwiderung an den Kopf zu schleudern. Stumm und ohne jede Bewegung starrte sie auf ihn hinab.
Gerold wandte sich an den Knaben, sprach auf ihn ein und zeigte dann auf den Palas. Huldrich wich einen Schritt zurück und schüttelte heftig den Kopf.
»Ich habe die Krähenjagd aufgegeben«, stieß er hervor, »wie Ihr es mir befohlen habt. Doch das werde ich nicht tun.«
»Du wagst es, dich mir zu widersetzen?«, schrie Gerold, und sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze. »Soll ich dich wieder in die Armut zurückschleudern, du elender Wurm? Du bist mir Gehorsam schuldig, vergiss das nicht. Sie ist eine Hexe! Hab also kein Erbarmen mit ihr! Sie hat mich beim Pfarrer angeschwärzt. Hätte ich dem Pfaffen kein Geld für die neue Kirche versprochen, würde ich schon längst am Galgen baumeln. Also tu gefälligst, was ich dir aufgetragen habe.«
Daraufhin holte er aus und verabreichte Huldrich eine kräftige Backpfeife. Der Junge fing an zu schluchzen, fasste sich mit der einen Hand an die Backe und lief los. Als er im Gebäude verschwunden war, drehte sich Gerold erneut zur Mauer.
»So, Madame«, sagte er. »Es ist sehr freundlich von Euch, es mir so leicht zu machen. Es wird alles wieder gut werden. Seid unbesorgt!«
21
Seengen, 2010
M öchtest du Wein?«
Anouk nickte, worauf Max beim Kellner eine Flasche Œil de Perdrix bestellte. Der gekühlte Rosé schmeckte nach wilden Beeren und Sommer. Sie prosteten sich zu und widmeten sich anschließend dem köstlichen Feldsalat. Die Terrasse des Hotels Schönau war an diesem Sonntagabend bis auf den letzten Platz besetzt. Aber sie hatten einen der besten Tische ergattert und saßen nur wenige Meter vom See entfernt, auf dem gerade ein Blesshuhn schwamm, abtauchte und an einer anderen Stelle wieder an die Wasseroberfläche kam. Die Aktion des Vogels schlug kaum Wellen. Der Hallwilersee schmückte sich mit einer spiegelglatten Fläche, die nur vom Kursschiff in halbstündlichem Takt aufgebrochen wurde.
Anouk verging fast vor Ungeduld. Alles drängte sie danach, Max endlich von ihren neuesten Entdeckungen zu erzählen. Doch jedes Mal, wenn sie ansetzte, um mit ihrem Bericht zu beginnen, brachte die Bedienung irgendetwas an ihren Tisch. Als sie schon beim Hauptgang angelangt waren, hielt sie es nicht länger aus.
»Bernhardine von Hallwyl«, platzte sie heraus. Max hob erstaunt den Blick. »Das ist der Name der Dame auf dem Porträt. Ich habe ihn herausgefunden. Sie ist die zweite Ehefrau dieses Johannes von Hallwyl, des damaligen Schlossherrn. Ein alter Knacker! Und nicht gerade ein Adonis, wenn man dem Bild in der Ahnengalerie Glauben schenken kann.« Sie holte tief Luft und strahlte Max an.
»Donnerwetter«, entfuhr es ihm, »wie hast du das denn herausgefunden?«
Anouk lächelte geschmeichelt und erzählte ihm, während ihr Fisch kalt wurde, von dem Gedicht, das ihr aus der Geisterwelt sozusagen in die Feder diktiert worden war. Und von Juliens Stammbaum für die Familie Morlot und den Folgerungen, die sie daraus gezogen hatte. Dass Valerie und Viola
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