Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Westwind hatte ihn in den vergangenen Tagen weggeweht. Trotzdem musste Bernhardine höllisch achtgeben, um nicht abzurutschen. Denn die Quader waren an einigen Stellen vereist und boten ihren Händen und Füßen kaum Halt. Trotz der eisigen Temperatur begann sie zu schwitzen, während ihr gleichzeitig schrecklich kalt war. Ein Schweißtropfen rann zwischen ihren Brüsten hinab. Sie presste eine Hand auf ihr Mieder, kam dadurch aus dem Gleichgewicht und trat mit einem Fuß ins Leere. Im letzten Moment konnte sie sich gerade noch an der Zinne vor sich festhalten. Als sie ihren immer noch frei schwebenden Fuß wieder nach oben zog, verlor sie einen Schuh. Bernhardine hörte ihn unten ins Wasser des Aabachs fallen. Sie hielt einen Augenblick inne, weil sie von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. Ihre Lunge schmerzte entsetzlich. Doch mit nur einem Schuh konnte sie nicht weitergehen. Das war zu gefährlich. Also streifte sie sich kurz entschlossen auch noch den anderen vom Fuß, der dem ersten in die Dunkelheit folgte. An das Überziehen von Strümpfen hatte sie bei ihrer überstürzten Flucht nicht gedacht, genauso wenig wie an ihren pelzgefütterten Mantel, der sie bei der Kletterei vermutlich aber sowieso nur behindert hätte. Bereits nach wenigen Augenblicken spürte sie ihre Füße kaum noch. Aber das war unwichtig, Désirée wartete schließlich auf einer Blumenwiese auf sie, auf der sie auch barfuß laufen konnte. Sie musste eben die Zähne zusammenbeißen.
Die Fackeln im Schlosshof spendeten kaum noch Licht. Bernhardine keuchte und blieb kurz stehen, um zu verschnaufen und die Anzahl der Zinnen zu zählen, die auf ihrem Weg zur anderen Seite des Schlosses vor ihr lagen. Es waren sicher noch an die zehn Stück bis zum Westbau. Ob sie die Kraft besaß, diese auch noch zu bezwingen? Sie musste es einfach schaffen, denn dort befanden sich die Dienstbotenkammern. Irgendjemand wäre um diese Zeit bestimmt schon auf. Sie würde um Schuhe, warme Kleidung und ein Pferd bitten. Bitten? Nein, sie war schließlich immer noch die Herrin hier! Sie würde ein Pferd verlangen und fliehen. Bis nach Seengen war es zu schaffen. Dort würde sie beim Pfarrer um Asyl ersuchen und danach ihre Söhne holen.
»Maman, je t’attends. Viens chez moi!« Mama, ich warte auf dich. Komm zu mir!
Bernhardine erbebte. »Désirée?«, fragte sie ungläubig, »bist du es?«
Ihr Kopf schnellte herum, und sie kniff die Augen zusammen. Dort? War da nicht eine Gestalt auf den Zinnen? Hatte ihre Kleine hier die ganze Zeit über auf sie gewartet? Bernhardine kletterte hastig weiter. Das rote Kleid blieb an einem Mauervorsprung hängen, und der Stoff riss in der gesamten Länge ihres Rocks entzwei. Ihre Lungen brannten wie Feuer, Hände und Füße waren zu Eisklumpen erstarrt. Und sie war müde … so müde.
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung unten im Hof. Ein Schatten huschte zwischen den Fackeln umher. Bernhardine hielt schwer atmend inne. Sie kannte den Jungen, der sich einen Jackenärmel in den Hosenbund gestopft hatte, doch von irgendwoher. Aber ja, es war der Krähenjäger! Wie hieß er doch noch gleich? Ob er ihr vielleicht helfen könnte? Aber ihre Stimme besaß nicht mehr genug Kraft, um laut nach ihm zu rufen. Bernhardine blickte um sich, erspähte ein vereistes Stück Schnee und schabte es von der Zinne. Ihre Fingernägel brachen dabei ab, und ein scharfer Schmerz schoss durch ihren Handballen. Doch endlich hatte sie das Eisstück losgelöst und warf es mit letzter Kraft in den Hof hinunter. Es traf unweit der Fackeln auf dem schneebedeckten Hofpflaster auf. Der Junge hielt kurz inne, drehte sich um und blickte über den verlassenen Schlosshof. Dann schüttelte er den Kopf und setzte seinen Weg fort.
Bernhardine begann zu schluchzen. Er hatte sie nicht bemerkt. Sie kauerte zwischen zwei Zinnen; zu erschöpft, um vorwärtszugehen, zu geschwächt, um den Rückweg anzutreten. Sie lehnte ihre Stirn an das kalte Mauerwerk. »Ausruhen«, murmelte sie, »ich muss mich ein wenig ausruhen«, und schloss die Augen.
Eine Tür schlug zu. Bernhardine blinzelte mühsam und gewahrte den Einarmigen, wie er vom Abort zurück zu den Unterkünften eilte. Beim Gehen knöpfte er sich die Hose zu. Huldrich! Genau, so hieß er. Und sie teilten ein Geheimnis miteinander, welches, wusste sie jedoch nicht mehr.
»Hier«, keuchte sie und hob eine Hand. »Huldrich, hier oben!«
Der Junge musste sie gehört haben, denn er drehte sich um und schaute
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