Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
weil mein Bruder Eurer hübschen Larve verfallen ist. Herr, Herr, weshalb hast du mich verlassen?«
Er faltete die Hände und fiel auf die Knie, seine Lippen bewegten sich lautlos. Er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Bernhardine schauderte.
Plötzlich schnellte er wieder hoch. Hass loderte in seinen Augen. Er bleckte die Zähne und sah dabei wie der leibhaftige Teufel aus. Sie stolperte rückwärts, bis sie die kalte Wand in ihrem Rücken spürte.
»Bei allem, was mir heilig ist«, krächzte Gerold und fixierte sie dabei, »schwöre ich auf das Grab meiner geliebten Mutter, dass Ihr dafür bezahlen werdet! Auge um Auge, Zahn um Zahn. Noch in dieser Nacht werdet Ihr vor Euren Schöpfer treten. Euer Name aber wird getilgt werden. Alle, die nach uns kommen, werden Euch vergessen, als hättet Ihr nie existiert. Kein Papier, kein Bild, kein Grab wird an Euch erinnern. Bernhardine von Hallwyl, geborene Diesbach-von Morlot, Ihr werdet zu Erde und Staub werden und immer zwischen den Welten wandeln, bis zum Jüngsten Tag! Alea iacta est! Die Würfel sind gefallen!«
Bernhardine stockte der Atem. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, und eine eisige Kälte durchzog ihren Körper. Der helle Raum um sie herum begann, sich zu drehen, und sie sank mit einem Schrei zu Boden.
Sie erwachte, weil ihr kalt war, und tastete nach ihrer Bettdecke, doch da war nichts. Als sie die Augen öffnete, umgab sie Dunkelheit. Sie wusste im ersten Moment nicht, wo sie sich befand, bis ihr bewusst wurde, dass sie auf dem Fußboden ihres Zimmers lag. Beim Aufstehen fuhr ihr ein stechender Schmerz durch den Kopf. Sie befühlte ihre Wange; sie war geschwollen. Mit aller Härte kam die Erinnerung zurück: Johannes’ Tod, Gerolds Drohung. Sie wusste, er würde seine Ankündigung wahr machen. Und sobald sich alle zu Bett begeben hätten, würde er vermutlich sogleich zurückkehren und sie umbringen. Er hatte die Mittel, ihren Tod wie einen Unfall aussehen zu lassen. Angst bemächtigte sich ihrer und schnürte ihr die Kehle zu. Was sollte sie tun? Ihr blieb nur wenig Zeit. Auf alle Fälle nicht hier warten, bis ihr Henker zurückkehrte.
Bernhardine tastete sich an der Wand entlang zur Tür. Sie war von außen verschlossen. Natürlich. Es gab nur diesen einen Ausgang – sie war gefangen. Marie schlief zwei Räume weiter. Selbst wenn sie schrie, ihre Amme würde sie nicht hören. Die dicken Mauern schluckten jedes Geräusch. Und wie sollte die alte Frau ihr auch helfen? Unter Umständen hatte Gerold ihre ehemalige Amme sogar bereits beseitigt. Cornelis? Der Himmel wusste, wo er war, vermutlich schon abgereist. Oder vielleicht hatte Gerolds Zorn auch ihn getroffen. Sie sah keinen Ausweg mehr. Wie Gerold gesagt hatte: Die Würfel waren gefallen.
Den rückwärtigen Verschluss ihres roten Kleides hatte Bernhardine ohne fremde Hilfe nur behelfsmäßig zuschnüren können, weshalb ihr das Oberteil nun ständig von den Schultern rutschte. Unschicklich? In der Tat.
Es war nur ein kleiner Sprung vom Fenstersims ihres Gemachs auf die quadratischen Zinnen der Begrenzungsmauer, die direkt unterhalb ihres Zimmer entlanglief. Ein Wehrgang hätte ihr die Flucht erleichtert, aber es musste auch so gehen. Was die Bediensteten im Frühling schafften, wenn sie die Zinnen jeweils nach neuen, durch die Winterkälte entstandenen Bruchstellen absuchten, musste auch ihr gelingen. Bernhardine suchte mit den Füßen sicheren Halt auf dem verharschten Schnee des Fensterbretts und hielt sich mit einer Hand am Fensterflügel fest. Eisstücke lösten sich vom Sims und fielen in die Dunkelheit. Sie klammerte sich mit der anderen Hand an einen Mauervorsprung. Die Haut an ihren Fingerspitzen riss auf, und Blut tropfte auf den eiskalten Stein. Sie konnte nicht mehr länger warten, ihre Muskeln erlahmten bereits. Sie holte tief Luft, ging leicht in die Knie und sprang.
Hart prallte sie auf der ihrem Zimmer zunächst liegenden, abgeflachten Zinne auf und hielt sich an ihr fest, bis sie mit beiden Füßen auf dem Zinnenfenster zu stehen kam. Geschafft. Gerold würde Augen machen, wenn er ihr Gemach leer vorfände. Sie fühlte ein hysterisches Lachen in ihrer Kehle aufsteigen.
»Ich bin ein Vogel!«, rief sie. »Ein roter Vogel. Bald werde ich in den Himmel steigen, übers Tal fliegen und nach Désirée Ausschau halten können. Sie wartet auf mich. Ja, meine kleine, süße Dédée, Mama kommt bald!«
Auf den Zinnen und Zinnenfenstern lag kein Schnee mehr. Der
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