Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
eine Quelle.« Sie zog ihre Schuhe aus, stieg in das rechteckige Wasserbecken unter dem Duschkopf und drehte den Griff zu. Das Tröpfeln hörte auf. »Hier ist etwas eingemeißelt«, wandte sie sich an Max und zeigte mit dem Finger an die Decke. »Ich kann es aber nicht entziffern.«
»Warte!« Er rannte zum Kiosk und kam mit der Laterne zurück. Dann schlüpfte er ebenfalls aus seinen Schuhen, kam zu Anouk in das Becken und hielt die Lampe in die Höhe.
»Sieht aus wie ein Wappen«, bemerkte Anouk und kniff die Augen zusammen.
»Stimmt«, rief Max aufgeregt, »das ist ein Wappen! Und zwar das der Herren von Hallwyl. Wäre es nicht nur eingemeißelt, sondern auch noch ausgemalt, würden wir ein Paar schwarze Flügel auf gelbem Grund erkennen können. Es prangt auch auf dem Einband von Ruflis … Anouk? Was ist denn?«
Anouk hatte sich auf den Beckenrand gesetzt und schaute entsetzt zu Max hoch.
»Ich kenne das Zeichen auch«, wisperte sie. »Rufli hatte es sich auf die Stirn gepinselt, als er mich im Garten angegriffen hat. Und erinnerst du dich daran, was Tati uns erzählt hat? Sie sagte, Walter und Herbert hätten so komische Zeichen auf der Stirn gehabt, als ob sie Indianer gespielt hätten. Die haben nicht Indianer gespielt, Max. Die haben sich ein Wappen auf die Stirn gemalt. Ihr Wappen! Das Wappen derer von Hallwyl.«
Max schnappte nach Luft. »Das kann nicht sein«, stieß er hervor und schüttelte den Kopf, »denn wenn es so wäre, wären die Ruflis ja mit dem Adelsgeschlecht der Hallwyls verwandt. Wäre ich mit dem Adelsgeschlecht verwandt!« Er lachte, aber es klang unsicher. »Deine Fantasie geht mit dir durch.«
Anouk blickte noch einmal zu dem Wappen hinauf. Auch wenn Max ihrer Schlussfolgerung keinen Glauben schenkte, war sie sicher, dass sie zutraf. Wieso sollte ein kleiner Knabe auch sonst jemandem dabei helfen, eine tote Frau beiseitezuschaffen? Doch nur, wenn er eine tiefe Beziehung zu diesem Jemand hatte und ihm viel daran lag, diesem zu Diensten zu sein. Und wem waren kleine Buben am meisten verbunden?
»Er war sein Vater«, sagte Anouk und erhob sich. Ihre Shorts waren pitschnass; sie griff nach dem Stoff und wrang ihn mit beiden Händen aus.
»Wie?« Max runzelte die Stirn. »Wer war wessen Vater?«
»Der Böse im Stück, der die Rolle des Eusebius spielt, war Huldrichs Vater. Der Dichter war vermutlich das uneheliche Kind eines Grafen von Hallwyl. Erinnere dich an unseren Theater-Flyer und was dort über Huldrich Erismann, den Verfasser des Stückes, zu lesen war. Ich weiß den genauen Wortlaut nicht mehr, aber dort stand, dass er ein Waisenkind war. Dass er in Bern Theologie studiert hat und dass er ein inniges Verhältnis zu den von Hallwyls pflegte. Denk mal nach! Wie und wovon hätte ein Waisenjunge jemals die Mittel für ein Studium aufbringen können? Und was hätten deiner Meinung nach die Hallwyls davon, eine innige Beziehung zu einem einfachen Pfarrer zu unterhalten? Und wieso sollten sie einen solchen auf dem Schlossfriedhof bestatten? Doch nur aus dem einzigen Grund, weil er einer von ihnen war. Ein Bastard zwar, aber dennoch einer, in dessen Adern das gleiche Blut floss. Das gleiche Blut, das auch in deinen Adern fließt, Max.«
Anouk hatte sich warmgeredet. Ihr Mund war staubtrocken, und sie hatte plötzlich einen unheimlichen Durst. Aber Max blieb stumm. Sie gab ihm Zeit, das Gehörte zu verdauen. Es war sicher nicht leicht für ihn. Zuerst die Erkenntnis, dass er mit den Ruflis verwandt war, und jetzt, dass es vermutlich einen, nein, sogar zwei Mörder in seiner Familie gab: diesen Bösewicht aus dem Stück, der für einen der von Hallwyls stand, und Herbert Rufli. Wie musste er sich fühlen?
Vom Kirchturm schlug es zwölf. Geisterstunde. Genau die passende Zeit, um ein Skelett zu finden. Anouk spürte auf einmal eine große Ruhe in sich aufkommen, als wäre sie nach einer langen Reise endlich zu Hause angekommen. Sie sah sich plötzlich aus großer Höhe auf sich selbst hinabblicken, als würde sie über der Szenerie schweben. Max und Anouk, wie sie in dem Wasserbecken der Halle standen. Max mit der Laterne in der Hand, Anouk neben ihm, sprechend, gestikulierend.
Sie blinzelte verwirrt. Was war das eben gewesen? Sie schaute zum Firmament; sah den Vollmond mit seinen Kratern und den dunklen, samtenen Himmel mit seinen Sternen. Hatte sie gerade eben dort oben geschwebt? Sie schüttelte den Kopf. Sie brauchte dringend Schlaf.
»Ich fühle, dass wir beinahe am Ziel
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