Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Schein der Laterne sah sie eine Art Schacht aus roh behauenen Steinen. Der Ablauf des Duschbeckens war früher also tatsächlich ein Brunnen gewesen.
»Bist du dort unten, Bernhardine?«, flüsterte sie. »Wenn ja, dann pass auf ihn auf. Ich liebe ihn. Du weißt, was Liebe ist, nicht wahr? Du wirst ihn beschützen. Um meinetwillen.« Sie faltete die Hände und presste sie gegen ihre Lippen. »Lieber Gott, lass ihn heil wieder heraufkommen!«
»Ich bin unten«, tönte es in diesem Moment aus dem Schacht.
Anouk rutschte auf ihren Knien bis an den Rand des Loches. Weit unter sich sah sie den Schimmer der Laterne.
»Und?«
»Nichts«, kam es nach oben. »Nur ein Kanal. Vermutlich führt er in den See. Viel Schlamm und Dreck. Ansonsten …«
»Was?«, schrie Anouk. »Was?«
Bern, Stadtresidenz derer von Diesbach, 1746
»Wer?«
»Ein Kurier, Herr. Er hat etwas abzugeben.«
Franz Ludwig von Diesbach wedelte genervt mit der Hand. »Dann nimm es ihm halt ab, Herrgott! Bin ich denn von lauter Dummköpfen umgeben?«
Der Diener machte einen Kratzfuß. »Entschuldigt bitte, aber der Mann will das Päckchen nur der Gräfin überreichen … persönlich.«
Franz Ludwig hob die Augenbrauen. Seit wann bekam sein Weib denn Botschaften, ohne dass er davon wusste? Hatte sie etwa Geheimnisse vor ihm? Das wäre ja noch schöner! Er erhob sich ächzend.
Der Kurier stand in der Halle neben dem Kamin und wärmte sich die Hände. Er drehte sich um, als Franz Ludwig eintrat.
»Gebe Er mir das Ding!«, befahl Franz Ludwig und streckte die Hand aus.
Der Bote kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Mir wurd aufgetragn, es der Madame zu gebn. Und nur ihr.«
Franz Ludwig verdrehte die Augen.
»Papperlapapp!«, zischte er. »Ich bin der Herr hier, und deshalb geht auch alles an mich. Ich halte nichts von den neumodischen Sitten, dass Weiber selbst Post erhalten. Er etwa?«
Der Kurier setzte ein schiefes Grinsen auf. »Ned wirklich. Die solln gefälligst am Herd stehn und die Brut aufziehn.«
Franz Ludwig nickte zustimmend. »Also her damit. Und dann kann Er sich in der Küche einen Teller Suppe geben lassen.«
Die Augen des Boten leuchteten auf. Er langte in seine Umhängetasche, zögerte kurz und reichte Franz Ludwig anschließend schnell das eingeschnürte Päckchen. Dieser steckte es in seine Westentasche und drehte sich um.
Plötzlich schlug sich der Kurier an die Stirn. »Entschuldigt, da isch noch was.« Er griff abermals in seine Jackentasche und holte einen mehrfach gefalteten Zettel hervor. »Der ghört dazu.«
Doch Franz Ludwig hatte die Tür bereits hinter sich geschlossen. Der Bote betrachtete das Papier eine Weile, zog schließlich die Schultern hoch und warf es ins Feuer.
»Hans, einen Glühwein, aber hurtig!«
Franz Ludwig setzte sich an seinen Arbeitstisch und griff nach dem Verzeichnis der Jungpferde. Wenn das braune Hengstfohlen über den Winter kam, würde es ein hübsches Sümmchen einbringen. Er zog Speichel hoch und spuckte ihn in den Messingnapf auf dem Tisch. Wenigstens entwickelten sich seine Zuchtpferde hervorragend, wenn es seine eigenen Nachkömmlinge schon nicht taten. Ein Haufen Taugenichtse waren sie, die ihm immer noch auf der Tasche lagen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, hatte er darüber hinaus noch eine Hexe an seiner Brust genährt.
Franz Ludwig knurrte. Er wollte nicht mehr an Bernhardine denken. Zu tief saß die Schmach, die sie ihm angetan hatte und die wie ein Damoklesschwert über seinem Adelsgeschlecht hing. Schwarze Kunst und Selbstmord! Franz Ludwig schüttelte sich vor Entsetzen. Er konnte Gerold von Hallwyl für seine Umsicht, Bernhardine aus allen kirchlichen Registern zu streichen, um dadurch den Namen derer von Hallwyl und letztlich natürlich auch den derer von Diesbach rein zu halten, nur dankbar sein. Nur wenige verhielten sich so edel wie der Bruder seines verstorbenen Schwiegersohns. Gerold hatte dessen gesamten Besitz geerbt und ihm versprochen, Bernhardines Nachkommen der ersten Frau von Johannes zuschreiben zu lassen. So würden diese wenigstens im Tod noch zu einer anständigen Mutter kommen.
Die Blattern! Franz Ludwig fröstelte. Dem Himmel sei Dank, dass Gerold nicht verlangt hatte, dass sie zum Begräbnis der Zwillinge anreisen sollten. Was mit Bernhardines Leichnam geschehen war, wollte Franz Ludwig gar nicht wissen. Amandine hatte zwar Zeter und Mordio geschrien, weil er ihr verboten hatte, in den Aargau zu fahren,
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