Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
gekreuzigten Heiland schwören, dass du es nur der Gräfin Amandine von Diesbach übergeben wirst. Nur ihr persönlich! Keinem Diener, keiner Magd und schon gar nicht dem Freiherrn. Schwörst du mir das?«
Der Bote kratzte sich am Kinn, spuckte dann in die Hand und hob drei Finger. Marie nickte zufrieden und reichte ihm darauf ein mit Bindfaden verschnürtes Päckchen, das er umgehend in seiner Umhängetasche verstaute.
»Wir vom Kurierdienscht habn schließlich Ehrgfühl«, brummte er und hielt ihr die hohle Hand hin. Marie klaubte vier Münzen aus ihrem Gürtel. Jetzt blieb ihr nur noch eine. Sie seufzte. Der Mann tippte zum Gruß an seine Stirn und drehte sich um.
»Warte!«, rief sie und lief in den Stall, wo Cornelis auf einem Strohballen saß und seine Stiefel einfettete. »Schnell«, keuchte sie, »ein Papier. Und etwas zum Schreiben!«
Seit drei Tagen lagerten sie nun schon in Altdorf und warteten auf besseres Wetter, denn der Pfad nach Süden über den Gotthard war bei Schneefall nicht passierbar. Sie hatten sich einer Säumerkolonne angeschlossen, die mit vier Ochsen und zwei Schlitten die Passüberquerung wagen wollte. Cornelis hatte ihr mit leuchtenden Augen von Italien berichtet und von den alten Meistern vorgeschwärmt. Diese waren Marie jedoch ziemlich gleichgültig, sie hatte nur das Bedürfnis, so schnell wie möglich weit weg von hier zu kommen. Und ob sie jetzt ihren letzten Schnaufer auf dem Weg ins Tessin oder in Mailand tat, war ihr einerlei. Ihre Tage waren sowieso gezählt und alle ihre Liebsten dahin. Was sollte sie noch länger auf Erden? Doch als sie an diesem Morgen dem berittenen Kurier begegneten, war ihr eine Idee gekommen. War es wahnwitzig oder ein Zeichen des Himmels? Der Postdienst in dieser Gegend war zwar wenig verlässlich, doch sie musste es versuchen. Es war möglicherweise die letzte Gelegenheit.
Cornelis zog ein zerknittertes Stück Leinwand und einen Stift aus der Satteltasche. »Mehr habe ich nicht mehr«, sagte er und hob entschuldigend die Schultern.
Er hatte die vergangenen Tage über kleine Zeichnungen für die Reisenden angefertigt und sie gegen Speis und Trank eingetauscht. Obwohl ihnen ständig der Magen knurrte und man bereits die Rippen ihrer Pferde zählen konnte, hatten sie die überstürzte Flucht bislang heil überstanden.
Marie nickte. »Das muss genügen.«
Sie setzte sich neben die Futterkrippe, rieb ihre eiskalten Hände aneinander und langte nach dem Crayon. Sie befeuchtete die Spitze des Grafitstifts mit der Zunge und fing an zu schreiben:
Verehrte Gräfin!
Glaubt nicht, was man Euch über Dinchen zuträgt. Es ist nicht wahr! Nie und nimmer! Sie war ein liebes Kind und eine gute Mutter. Bewahrt das Einzige, was mir von ihr geblieben ist, gut auf! Sie hat es von Euch bekommen, und deshalb soll es auch wieder an Euch zurückgehen, das hätte sie so gewollt. Vielleicht bringt es einer anderen Dame aus Eurer Familie ja mehr Glück. Gott sei mit Euch!
Die Marie, Dinchens alte Amme.
Sie faltete das Schreiben zusammen und eilte wieder aus dem Stall hinaus. Der Kurier war eben dabei, sich in den Sattel zu schwingen.
»Hier!«, rief sie und streckte ihm die Mitteilung hin. »Das gehört dazu … und ist im Preis inbegriffen.«
Der Mann verdrehte die Augen, schnappte sich das zusammengefaltete Stück Leinwand und gab seinem Pferd die Sporen.
23
Seengen, 2010
D ie antike Dusche war Anouk heute schon einmal aufgefallen, als sie schwimmen gegangen war. Die kleine Halle, in der sie angebracht war, bestand aus weißem Marmor, erinnerte ein wenig an einen griechischen Tempel und war nach drei Seiten hin offen. An ihrer Vorderseite und den beiden Längsseiten befanden sich Säulen, nur die Rückwand war aus festem Stein. An dieser war auch der Duschkopf, aus dem es tröpfelte, auf halber Höhe angebracht worden.
»Das Wasser ist eiskalt«, sagte sie keuchend, als sie bei dem Bauwerk ankamen. »Ich habe heute hier geduscht, nachdem ich eine Runde im See geschwommen bin.«
Max umrundete währenddessen die Halle. »Es existiert keine verborgene Tür oder sonst eine Öffnung auf der Rückseite. Das Ding kann außerdem nicht im achtzehnten Jahrhundert erbaut worden sein. Damals gab es noch kein fließendes Wasser.«
»Vielleicht doch, und die Dusche wurde nur nachträglich installiert, und die Halle diente zu Bernhardines Zeit zu etwas ganz anderem«, mutmaßte Anouk. »War der Brestenberg nicht für sein Heilwasser bekannt? Möglicherweise sprudelte hier
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