Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
sie zukünftig nicht jede Nacht heimsuchen würde. Dann drehte sie sich auf die Seite und fing an zu weinen.
5
Seengen, 2010
T ati, du hast nicht zufällig die Mobilfunknummer von Doktor Sandmeier?«
Valerie krauste die Nase. »Seine Mobilfunknummer?«, echote sie.
Anouk nickte und fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Jetzt würde ihre Großtante in Gedanken sicher schon das Hochzeitsbankett planen.
Anouk hatte den ganzen Morgen über Max’ Angebot, bei dem Theaterstück mitzuwirken, nachgedacht und sich entschlossen, ihm für die Rolle abzusagen. Sie fühlte sich weder körperlich noch seelisch in der Verfassung, an so einem Projekt teilzunehmen. Wie konnte sie sich bei einem Bühnenspiel vergnügen, wenn Julia tot war? Das war mehr als pietätlos. Des Weiteren würde sie vermutlich schon vor der Premiere wieder nach Zürich zurückkehren. Und dann würde es für Max noch schwieriger werden, auf die Schnelle Ersatz zu finden.
»Du kannst ihn doch in der Praxis anrufen, Liebes«, sagte Valerie und ließ das Spülwasser abfließen, das sich mit einem Gurgeln verabschiedete. »Fühlst du dich nicht wohl?«
»Das ist es nicht«, erwiderte Anouk. »Es ist … eher privat.«
Sie hängte das Geschirrtuch an den Haken hinter der Küchentür.
»So, so«, meinte ihre Großtante mit einem anzüglichen Lächeln. »Privat. Ich verstehe.«
Anouk bezweifelte dies zwar, hatte aber keine Lust, Valerie über das Theaterspiel aufzuklären. Am Ende würde diese die Idee noch ganz fantastisch finden und sie bedrängen, ihre Absage nochmals zu überdenken.
Ihre Großtante trocknete sich die Hände an ihrer Küchenschürze ab und ging zum Telefonapparat, der auf einem Sekretär neben dem Fernseher stand.
»Ich glaube, hier muss sie irgendwo sein«, murmelte sie und wühlte zwischen verschiedenfarbigen Zetteln, Zeitungsausschnitten und Coupons, die sich zu einem beträchtlichen Stapel zusammengefunden hatten. »Wusste ich’s doch!«, rief sie triumphierend und zog eine Visitenkarte aus dem Haufen. Anouk streckte die Hand danach aus, aber Valerie drückte die Karte an ihre Brust. »Gefällt er dir?«, fragte sie und lächelte verschmitzt.
Anouk seufzte. »Ja, ich finde ihn ganz nett.« Und als ihre Großtante zufrieden mit der Zunge schnalzte, fügte sie rasch hinzu: »Das ist aber auch alles.«
Anouk schnappte sich die Visitenkarte, bevor Valerie noch etwas erwidern konnte, lief die Treppe hinauf und setzte sich aufs Bett. Sie öffnete ihren Koffer, holte den Amaretto hervor und griff nach ihrem Handy.
Der Alkohol brannte köstlich in der Kehle und verwandelte sich in eine beruhigende Wärme, als er in ihrem Magen ankam. Es klingelte nur zweimal, bis sich Max meldete.
»Sandmeier.«
»Anouk hier. Ich wollte …«
»Anouk? Wie nett, von dir zu hören. Ist etwas mit deiner Großtante?«
Der Klang seiner Stimme war von Freude in Besorgnis umgeschlagen, und Anouk kam sich reichlich schäbig vor, ihn ausgerechnet jetzt zu enttäuschen. Wie es schien, mochte er Tati Valerie wirklich. Und auch ihr brachte er vermutlich mehr Sympathie entgegen, als es gegenüber der Angehörigen einer Patientin üblich war. Aber sie hatte nicht vor, sich auf eine Liaison mit ihm einzulassen. Sie würde bald wieder abreisen und wollte kein gebrochenes Herz zurücklassen.
»Nein, keine Sorge, Tati Valerie geht’s gut. Es ist wegen des Theaterstückes.« Sie holte tief Luft. »Ich habe mir das noch mal überlegt und … also … ich finde es doch keine so gute Idee und möchte lieber nicht mitmachen.«
Am anderen Ende blieb es still, bis sie schon dachte, die Leitung sei unterbrochen. »Max? Bist du noch da?«
»Ja«, erwiderte er. Seiner Stimme war nicht anzumerken, ob ihn ihre Absage getroffen hatte.
»Bist du jetzt enttäuscht?« Sie nahm noch einen Schluck aus der Flasche.
»Nein. Es ist nur …« Er räusperte sich. »Nun ja, ich finde es schade, weil ich mir sicher bin, dass du das Stück, die Proben und das ganze Drumherum gemocht hättest. Aber natürlich musst du selbst wissen, was du dir zutrauen kannst. Vielleicht ist es auch ganz gut so, schließlich bist du quasi Rekonvaleszentin und möglicherweise noch gar nicht in der Lage, dich einer solchen Herausforderung zu stellen.«
Anouk schnaubte. Als ob sie nicht in der Lage wäre, eine so kleine, popelige Rolle zu übernehmen! Für wen hielt sich Max denn? Für Woody Allen?
»Ich …«
»Bitte keine Entschuldigung«, unterbrach Max sie. »Ich verstehe deine
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