Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
zusätzlich mit Tüll eingefasst. Das Kleid sah wie ein riesiges Sahnebaiser aus. Daneben stand wie ein monströses Drahtskelett der Reifrock, der es stützen und ihm Form verleihen sollte.
»Und weshalb hast du dir diesen gelben Alptraum gekauft?«, fragte Anouk und setzte sich zu ihrer Großtante aufs Bett. »War das etwa ein Ameisenratschlag?«
Valerie schnaubte. »Bitte etwas mehr Respekt, junge Dame! Am Mittwoch ist das jährliche Sommerkonzert auf Schloss Hallwyl. Davon habe ich dir doch erzählt.« Anouk schüttelte den Kopf, doch ihre Großtante fuhr unbeirrt fort: »Und dieses Jahr spielen sie Musikstücke aus dem achtzehnten Jahrhundert. Da dachte ich mir, es wäre doch chic, wenn ich an diesem Abend ein Kleid aus der gleichen Epoche tragen würde. Vor allem werde ich damit Frau Großrätin Brechbühl um Längen schlagen. Die alte Vettel takelt sich jedes Jahr wie eine Zwanzigjährige auf und hält sich für Ich-weiß-nicht-was, nur weil ihr dürres Männlein einmal in der Regierung saß.«
Anouk lachte schallend, als sie den grimmigen Gesichtsausdruck ihrer Großtante bemerkte. Die langjährige Feindschaft zwischen den beiden Frauen bestand also immer noch. Anouks Mutter hatte einmal erzählt, dass die zwei Damen in ihrer Jugendzeit in denselben Mann verliebt gewesen waren. Seit damals konnten sie sich nicht ausstehen, auch wenn keine von ihnen das besagte Objekt ihrer Begierde später geheiratet hatte.
»Doktor Sandmeier hat übrigens noch eine zusätzliche Karte besorgt, damit du das Konzert ebenfalls besuchen kannst.«
Anouk hob den Kopf. »Aber …«
»Vergiss nicht, dich dafür bei ihm zu bedanken, Liebes«, unterbrach sie Valerie. »Und jetzt zieh!«
In der Nacht hatte es geregnet. Als Anouk gegen acht Uhr am Mittwochmorgen die Fensterläden aufstieß, tropfte es von den Bäumen. Die Luft war erfüllt vom Duft feuchter Erde und nasser Gräser. Über dem See zogen sich die letzten Dunstschleier ins Blau eines wolkenlosen Himmels zurück. Das Konzert würde also bei besten Wetterbedingungen stattfinden. Anouk hatte zwar gehofft, Petrus würde Erbarmen mit ihr zeigen und die Musikaufführung ins Wasser fallen lassen. Doch allem Anschein nach machte er sich einen Spaß daraus, sie mit einer Kopie Marie-Antoinettes ins Konzert zu schicken und sie außerdem noch neben dem vermutlich in Liebe entbrannten Dorfarzt zu platzieren.
Anouk gähnte herzhaft. Seit dem Unfall hatte sie nicht mehr so gut geschlafen wie letzte Nacht. Die wirren Träume, in denen sie den Crash immer und immer wieder nacherlebte, suchten sie nur noch selten heim. Manchmal kam sie darüber sogar ins Grübeln. Wie konnte sie das Geschehene nur so schnell vergessen? War es denn nicht wichtig, sich weiterhin daran zu erinnern? Die Selbstkasteiung als ein Weg zur Absolution? Aber wem half sie schlussendlich damit? Ihre Schuldgefühle machten ihre Freundin nicht wieder lebendig, genauso wenig, wie sie Julias Familie dabei halfen, mit dem tragischen Verlust ihrer Tochter fertig zu werden.
Ihr Handy klingelte. Sie schaute auf das Display, aber es war keine ihr bekannte Nummer.
»Morlot?«, meldete sie sich und strich sich die zerzausten Locken aus dem Gesicht.
»Guten Morgen, Frau Morlot. Hier Häusermann. Ihre Dichterinnen sind angekommen.«
Anouk hörte ein kurzes Lachen und versuchte, Namen und Aussage in einen Zusammenhang zu bringen. Die Lyrikbände – natürlich!
»Schon da? Toll! Ich werde heute noch vorbeikommen und sie abholen. Besten Dank für den Anruf.«
»Keine Ursache. Bis dann.«
Als Anouk nach einer halben Stunde die Küche betrat, war ihre Großtante bereits geschäftig am Werk. Auf dem Tisch standen verschiedene Töpfchen und Tiegel, ein Fächer, ein Paar Spitzenhandschuhe, und auf der Kaffeekanne thronte eine weiße Lockenperücke.
»Ich brauche mindestens zwei Stunden, bis ich das alles angezogen habe«, jammerte Valerie und verzog den Mund. »Ob das so eine gute Idee war?«
Anouk verkniff sich eine ironische Bemerkung, goss sich ein Glas Orangensaft ein und setzte sich an den Küchentisch. Mit spitzen Fingern griff sie nach den Handschuhen.
»Wir kriegen das schon hin, Tati, keine Sorge. Schwieriger wird vermutlich der Transfer. Oder holt uns ein offener Einspänner ab?«
Ihre Großtante riss die Augen auf. »Himmel, ja! Wie komme ich in diesem Kleid überhaupt ins Auto? Fahren kann ich damit jedenfalls nicht. Das musst du übernehmen, Schatz!«
Anouks Herz stockte. Nie im Leben würde sie sich
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