Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Entscheidung. Wirklich. Ich muss jetzt los. Wir sehn uns.«
Anouk betrachtete verblüfft ihr Handy. Er hatte einfach die Verbindung gekappt. So eine Unverschämtheit! Sie knallte das Telefon auf den Nachttisch und trank noch einen Schluck Amaretto. In ihrem Magen begann der Alkohol, mit den Nudeln zu kämpfen, und sie stürzte zur Toilette.
»Wer war das denn?«
Brigitte trat aus dem Badezimmer und trocknete sich ihre Hände, da Max vergessen hatte, ein Handtuch aufzuhängen, an ihrer Jeans ab.
»Eine Patientin«, sagte Max zögernd. »Danke für die Bücher, Brigitte«, fuhr er fort. »Ich hätte sie mir aber auch in der Bibliothek abholen können.«
Brigitte lächelte und zuckte mit den Schultern. »Ich war gerade in der Gegend, von daher …«
Max blickte zum Fenster hinaus. Er wusste ganz genau, weshalb sie ihm die Exemplare während ihrer Mittagspause vorbeigebracht hatte und was sie sich in Bezug auf ihn erhoffte. Und weil er das wusste, schämte er sich. Denn jede über Freundschaft hinausgehende Regung war, seitdem Anouk ihm im Zug in die Arme gefallen war, für ihn unmöglich geworden. Als hätte seine anfängliche Zuneigung zu Brigitte gar nie bestanden. Meine Güte, war er wirklich so oberflächlich? Und was bildete er sich eigentlich ein? Dass er tatsächlich Chancen bei einem Topmodel haben könnte, dem die Welt zu Füßen lag? Gerade eben hatte sie die Theaterrolle hingeschmissen – das sagte ja wohl alles.
Brigitte trat zu ihm und legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Max, ich …«
»Nein!«, stieß er heftig hervor, und Brigitte zuckte zurück. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.« Er schaute auf die Uhr. »Aber ich muss noch einen Hausbesuch machen.« Er lächelte gequält.
Brigitte nickte. »Verstehe«, sagte sie mit einem Seufzer. »Dann also bis zur Theaterprobe.«
Max nickte ebenfalls und atmete erleichtert auf, als die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel. Mein Gott, was war er bloß für eine Memme! Doch er hasste es, jemandem weh zu tun, und das würde er zweifellos, wenn er Brigitte reinen Wein einschenkte.
Er setzte sich an den Tisch und betrachtete sinnend die beiden dicken Bücher. Dann griff er entschlossen nach dem ersten und schlug es auf. Posttraumatische Belastungsstörung: Definition.
Im Schatten der Kastanienbäume war es angenehm kühl. Anouk lag auf einem Liegestuhl im Garten, ein Buch auf den angewinkelten Knien, und betrachtete eine Hummel, die zwischen den Taubnesseln emsig nach Nektar suchte. Tati Valerie hatte sich zu einem Mittagsschläfchen hingelegt. Am späten Nachmittag wollten sie zusammen am Seeufer ein Eis essen und im Anschluss daran schwimmen gehen.
Anouk dachte an die Stimme, die sie beim Schloss gehört hatte, an die Schülerin im Dorf und an ihre Großtante. Beide hatten Verse vorgetragen, ohne dass es ihnen anscheinend bewusst gewesen war. Verse in einer altmodischen Sprache. Valerie hatte solche Gedichtzeilen vermutlich noch in der Schule auswendig lernen müssen. Aber in der heutigen Zeit waren wohl eher Texte von Rappern als klassische Gedichte gefragt.
Anouk erinnerte sich nur noch vage an den Wortlaut der Verse. Irgendetwas mit Eis, Schnee, einem frommen Weib und fehlenden Erben. Zum ersten Mal bereute sie es, ihr Laptop nicht mit nach Seengen genommen zu haben. Aber eventuell fände sie in der örtlichen Bücherei einen Hinweis. Vielleicht ergab das Ganze ja einen Sinn, wenn sie den Verfasser herausfinden und die Gedichte nochmals nachlesen könnte. Sie hatte momentan sowieso nichts Besseres zu tun. Also warum sich nicht auf eine kleine Schnitzeljagd begeben? Für das meiste, was einem anfänglich übernatürlich erschien, gab es eine simple, logische Erklärung. Und sie würde sich bedeutend ruhiger fühlen, sobald sie eine gefunden hätte.
Entschlossen klappte sie das Buch zu und stand auf. Wenn sie sich beeilte, könnte sie zurück sein, bevor Tati ihre Siesta beendet hatte. Im Schuppen fand sie ein verrostetes Fahrrad, prüfte es auf seine Fahrtauglichkeit und strampelte los.
Die Bibliothek befand sich im Gebäude der Seenger Realschule. Anouk lehnte das Rad in Ermangelung eines Ständers an die Hauswand und trat durch die offen stehende Eingangstür. Ein Duftgemisch aus Kreide, Bohnerwachs und Turnbeuteln schlug ihr entgegen, und sie fühlte sich in ihre Schulzeit zurückkatapultiert. Eine jüngere Frau mit einem riesigen Stapel Taschenbücher ging an ihr vorbei.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und
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