Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Garderobiere war schon unterwegs, um einen Gürtel und ein paar Sicherheitsnadeln aufzutreiben.
»Also dann, alles wieder auf Anfang«, knurrte Max, gab dem Beleuchter ein Zeichen, und die Probe begann von neuem.
Es war kurz nach neunzehn Uhr. Die Abendsonne brach sich in den Baumwipfeln rund ums Schloss und malte münzengroße Lichtsprenkel auf die dicken Steinmauern. Im Innenhof war es herrlich kühl, und Anouk genoss die angenehmen Temperaturen im Schatten. Vorhin hatte sie noch geschwitzt, nachdem sie mit dem Fahrrad zur Burg gestrampelt war, weil Max sich nicht bei ihr gemeldet hatte und ihr daher nichts anderes übrig geblieben war, als selbst zur Theaterprobe zu fahren.
Anouk stand auf und schlenderte zur Brücke, die den Palas mit dem vorderen Schloss verband. Sie hatte ihren Auftritt erst in der dritten Szene. Bis dahin blieben ihr noch gute zehn Minuten. In der Rocktasche hatte sie ihr Handy versteckt; ein paar Fotos konnten nicht schaden.
Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu den Zinnen hinauf. Doch dort tauchte weder eine rot gekleidete Frau noch sonst ein anderes unerklärliches Phänomen auf. Eine einzelne Krähe flatterte durch den blasser werdenden Abendhimmel und ließ sich auf dem Giebel des Westbaus nieder. Anouk fröstelte. Überall waren diese Krähen. Sie waren eine richtige Plage. Anouk warf einen letzten Blick zur Bühne, wo Brigitte soeben Nick anschmachtete. Aller Augen waren auf die beiden Hauptdarsteller gerichtet. Und so nutzte sie den Moment, um im Palas zu verschwinden.
Der Eingangsbereich war erst kürzlich renoviert worden. Der Geruch von frischer Farbe hing noch in der Luft. Im Hintergrund führte eine Wendeltreppe in die oberen Räume. Linker Hand befand sich ein riesiger Kamin, davor standen drei geschnitzte Holzstühle mit hohen Lehnen. Ein kleiner Salontisch, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag, vervollständigte die karge Einrichtung. Auf der rechten Seite hinter einer Anzahl Säulen war noch eine weitere Tür eingelassen. Doch weit und breit war kein einziges Bild zu sehen. An den weiß verputzen Wänden befanden sich lediglich Halterungen für Fackeln, und von der hohen Decke hing ein prachtvoller Lüster. Anouk zögerte. Sollte sie nach oben oder lieber weiter geradeaus durch die Tür ins nächste Zimmer gehen? Sie entschloss sich für Letzteres. Mit klopfendem Herzen schlich sie auf die reich verzierte Flügeltür zu und griff nach der Klinke. Die Tür war unverschlossen. Das Glück schien ihr hold zu sein. Bevor sie jedoch durch das Portal hindurchtrat, blieb sie noch einmal stehen und lauschte. Die Proben dauerten an, sie hörte das Klappern der Holzschwerter. Zweite Szene. Ihr blieben noch knappe fünf Minuten.
Anouk betrat das Zimmer und stieß erleichtert die Luft aus. Es war die Ahnengalerie! Und wie schon im ersten, führte auch in diesem Raum eine Wendeltreppe in die obere Etage hinauf. Sie war mit einem eisernen Geländer versehen. Ausgetretene Steinstufen ließen ahnen, dass sie schon sehr alt sein musste. Ein Schild warnte die Besucher denn auch, sich beim Betreten der Treppe in Acht zu nehmen. Anouk schritt langsam die verschiedenen Porträts, Jagdszenen und Landschaftsbilder ab. Von riesigen Gemälden, die sicher vier Meter hoch waren, bis hin zu kleinen, quadratischen Aquarellen war so gut wie jedes Sujet und jede Stilrichtung vertreten. Doch auf keinem war auch nur eine einzige Frau zu sehen, die der mit den üppigen roten Locken im roten Kleid ähnlich sah. Anouk war enttäuscht, wollte aber noch nicht aufgeben. Sie stellte sich auf die Fußspitzen und schaute durch die hohen Fenster nach draußen. Die Kulissen für die dritte Szene wurden bereits aufgestellt; sie musste sich beeilen. Noch einmal schritt sie die Ahnengalerie ab, nur dass sie diesmal auch die kleinen, messingfarbenen Namensschildchen unter den Bildern dabei studierte. Hartmann, Burkhardt, Johann Georg, alles Ehrfurcht gebietende Herren in Rüstung, Uniform oder Talar, die Anouk von oben herab beäugten. Nur wenige Frauen waren unter den Abgebildeten. Das Gemälde einer Magd, wie sie ein Huhn rupfte, daneben das Porträt eines blassen Mädchens, das Margeriten pflückte. Vor einem Zwei-Meter-Bild, das eine Viktoria von Hallwyl zeigte, blieb Anouk stehen. Neben der Frau prunkte ein beleibter, hamsterbackiger Mann in zu engen Hosen. Graf Johannes und Gräfin Viktoria von Hallwyl. Viktoria? Anouk starrte auf das Bildnis. Natürlich! Gräfin Viktoria von Hallwyl. Die Frau, deren Namen Anouk
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