Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
tiefblauer Frühlingshimmel. Désirée lief drei Schritte vor ihrer Mutter durch das hohe Gras. Sie war barfuß, trug ein weißes Hemdchen und bückte sich allenthalben, um eine Blume zu pflücken. Ein Schmetterling fesselte ihre Aufmerksamkeit, und sie sprang ihm hinterher. Dabei lachte sie fröhlich, warf ihre roten Locken in den Nacken und drehte sich um.
»Venez, Maman, venez vite!« Kommt, Mama, kommt schnell!
Bernhardine lächelte. Désirée war so ein braves Kind, und endlich sprach sie auch Französisch, wie es sich für ein junges Adelsfräulein geziemte.
Bernhardine schwitzte. Sie blickte an sich herab und gewahrte verblüfft, dass sie ihr rotes Taftkleid trug. Was für ein Teufel hatte sie nur geritten, diese Robe ausgerechnet an so einem lauen Tag zu wählen? Sie schüttelte ärgerlich den Kopf und schaute sich um. Ihre Tochter hatte schon einen beträchtlichen Vorsprung und hüpfte übermütig auf den Fluss zu. Bernhardine erschrak. Die Kleine konnte nicht schwimmen!
»Bleib hier, Désirée, geh nicht zum Fluss, das ist gefährlich!«, rief sie und wollte zu ihr eilen. Doch die Wiese hatte sich urplötzlich in einen stinkigen Sumpf verwandelt. Ihre Seidenschuhe versanken in trübem Morast, verzweifelt versuchte sie, sich zu befreien, indem sie wild mit den Armen ruderte. Doch etwas Schweres an ihrem Hals zog sie unaufhaltsam zu Boden. Sie griff danach und hielt den tropfenförmigen Perlenanhänger, den ihre Mutter ihr zur Verlobung geschenkt hatte, in den Händen. Mit einem Keuchen ließ sie ihn los und starrte erschrocken auf ihre verbrannte Handfläche. Das Schmuckstück war siedend heiß! Ein Schrei ließ Bernhardines Kopf nach oben schnellen. Am Flussufer stand Gerold, neben ihm der einarmige Huldrich. Ihr Schwager war ganz in Schwarz gekleidet und hielt etwas Weißes, Zappelndes in den Armen.
»Au secours, Maman!« Zu Hilfe, Mama!
Bernhardine wurde übel. Ihr Kind schrie um Hilfe. In seiner Stimme schwang Todesangst mit. Sie musste zu ihm; musste es aus den Händen dieses Teufels reißen.
Mit größter Anstrengung kämpfte sie sich durch den Schlick. Aber immer, wenn sie dachte, sie sei ein paar Schritte vorangekommen, schienen die drei Gestalten noch ein Stück weiter entfernt. Bernhardine liefen die Tränen über die Wangen.
»Lass sie gehen, du Hundsfott!«, schrie sie außer sich. »Sie ist nur ein Kind! Nimm mich, wenn du dich erleichtern willst.«
Ihr Schwager grinste. Der Einarmige stand mit weit aufgerissenen Augen noch immer an Gerolds Seite. Im aufkommenden Wind flatterte sein leerer Ärmel wie eine Standarte um den mageren Oberkörper.
»Huldrich«, rief Bernhardine flehentlich, »hilf mir! Hilf Désirée!«
Im ersten Moment sah es danach aus, als würde der Junge ihrer Bitte nachkommen. Er griff nach Gerolds Arm. Doch anstatt ihre Tochter zu befreien, schnellte seine Hand noch ein Stück weiter nach oben und riss heftig an Désirées Locken. Deren kleiner Kopf schaukelte hin und her, als gehöre er einer Stoffpuppe. Gerold blickte auf Huldrich hinab und strich dem Buben lächelnd über den Kopf. Dann drehte er sich um und warf Désirée in den Fluss.
»Nein!«
»Madame, ich bitte Euch, bewahrt Haltung.«
Johannes’ Blick hatte sich verfinstert. Er drückte Bernhardines Arm so fest, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Der Pfarrer schaute konsterniert zu ihnen herüber. Doch nach einem Nicken seitens ihres Gatten räusperte er sich und fuhr mit seiner Predigt fort. Die Kirchgänger auf den vorderen Plätzen reckten ihre Hälse.
Ein Traum, es war nichts weiter als ein dummer Traum gewesen! Bernhardine atmete tief durch. Aber hatte sie tatsächlich laut geschrien? Was mussten die Anwesenden nur von ihr denken? Obwohl es in der Kirche kaum wärmer war als draußen, war sie schweißgebadet. Ihr Rücken schmerzte, das Kopfweh hatte sich verschlimmert, es war, als würde ihr jemand von innen mit einem Hammer gegen die Schädeldecke schlagen. Wie lange hatte sie geschlafen? Eine Minute? Eine Stunde? Jedes Zeitgefühl hatte sie verlassen.
»Warum ist Gerold nicht hier?«, fragte sie leise und rieb sich ihre eiskalten Hände. Ihr Muff war zu Boden gefallen, aber sie sah sich außerstande, sich nach ihm zu bücken. Womöglich wäre sie dabei in Ohnmacht gefallen.
»Dringende Angelegenheiten«, zischte Johannes. »Er schickte einen Boten mit einem Kondolenzschreiben.«
Bernhardine verzog spöttisch den Mund. Wie überaus mitfühlend. Es wurde ein Trauergottesdienst zu
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