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Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot S. Baumann
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zusammen mit denen ihrer vier toten Kinder auf dem Grabstein des Seenger Friedhofs gelesen hatte. Die Dame hatte pechschwarzes Haar, ein schmales, kränkliches Gesicht und war, wenn ihre Körpergröße auf dem Bild originalgetreu wiedergegeben war, beinahe eine Zwergin. Nie und nimmer war das die Zinnengängerin!
    »Verdammt!«, stieß Anouk enttäuscht hervor und wandte sich ab. Eine Sackgasse.
    »Anouk? Wo bist du?« Max’ Stimme klang verärgert.
    Anouk griff nach ihrem Handy und machte schnell ein Foto von Viktoria und ihrem Gatten. Überrascht hielt sie inne. Das Blitzlicht hauchte den Gesichtern der Porträtierten eine Sekunde lang Leben ein. Es war, als würden deren Augen bis auf den Grund ihrer Seele blicken. Anouk bekam eine Gänsehaut.
    »Anouk, verdammt noch mal! Du bist dran!«
    Max lief draußen am Fenster vorbei. Sie konnte seinen Schatten sehen. Es war besser, sich sofort auf die Socken zu machen. Also huschte sie zur Tür hinaus, lief durch das angrenzende Zimmer und trat aus dem Palas ins Freie. Die Schauspieler standen schwatzend beieinander. In ihren Kostümen wirkten sie wie Menschen aus einer anderen Zeit. Anouk überquerte die Brücke, ohne dass sie jemand bemerkte, und ging zur Bühne hinüber.
    »Bin ja schon da!«, rief sie. »Tut mir leid.«
    »Okay«, stieß Max zwischen den Zähnen hervor, »wenn das Supermodel dann endlich so weit ist, können wir ja weitermachen. Bitte alle auf ihre Plätze!«
    »Blödmann!«, zischte Anouk, als sie an ihm vorbeiging und sich zu den anderen gesellte. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn sich jemand in solch einem abfälligen Ton über ihren Beruf äußerte. Und dass dieser Jemand ausgerechnet Max war, schmerzte sie. Doch der Teufel sollte sie holen, wenn sie sich das anmerken ließe. War er etwa immer noch wegen gestern Abend gekränkt? Möglich. Sie wusste ja, dass sie ihn verletzt hatte. Aber deshalb war seine Bemerkung gerade eben trotzdem nicht in Ordnung und sie wiederum zu stolz, um ihn merken zu lassen, wie sehr er sie damit getroffen hatte. Deshalb schenkte sie ihren Szenenpartnern auch ein hinreißendes Lächeln und registrierte mit Genugtuung, wie sich Max’ Blick verfinsterte.

    Letztlich verlief die Probe doch noch einigermaßen glücklich, wenigstens verletzte sich niemand mehr. Und die blauen Flecken während der Kampfszene hielten sich in Grenzen. Brigitte erinnerte sich wieder an ihren Text, Anouk sagte ihre Zeilen ohne Stottern auf, und Max fand am Ende sogar zu seiner guten Laune zurück, als sich alle Darsteller gemeinsam vor den leeren Stuhlreihen verbeugten.
    Anouk ging sich wie alle anderen umziehen, hängte ihr Kostüm auf den Ständer zurück und schlenderte dann zu ihrem Fahrrad. Es versprach eine wundervolle Nacht zu werden. Die Luft war samtig, die Grillen zirpten voller Enthusiasmus, und über dem See ging gerade der Mond auf. Samstagnacht. Früher das Synonym für Partys, Alkohol und schnellen Sex. Und jetzt? Ratesendungen im Fernseher, Scrabble mit Tati Valerie und ihrem Maler sowie Proben zu einem Theaterstück aus dem achtzehnten Jahrhundert. Die Flasche Amaretto blieb bereits seit Tagen in ihrem Versteck. Anouks Bedürfnis nach Alkohol schwand mit jeder Stunde, die sie im Seetal verbrachte, und ihr früheres Leben vermisste sie genauso wenig wie ein Fotograf schlechtes Wetter. Hätte ihr das jemand vor einem halben Jahr prophezeit, sie hätte an dessen Verstand gezweifelt. Und noch etwas gab es, was sie hier in Seengen beschäftigte und nicht mehr losließ. Ein Rätsel. Das Rätsel um die Frau im roten Kleid. Anouk war sich mittlerweile sicher, dass die Stimmen und Verse, die sie hörte, mit dieser Erscheinung zusammenhingen. Und wenn es ihr gelänge herauszufinden, wer die Unbekannte war, würden auch diese unerklärlichen Phänomene verschwinden, und niemand würde mehr an ihrem Verstand zweifeln. Am wenigsten sie selbst.
    Anouk löste das Fahrradschloss, schwang sich auf den Sattel und blickte zum Eingang, wo Max neben Brigitte stand. Sie redeten miteinander, dann deutete er mit dem Arm zur Bühne hinüber, und beide fingen schallend an zu lachen. Die Bibliothekarin legte ihre Hand auf seinen Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Max lächelte und nickte.
    Anouk runzelte die Stirn. Was hatten die beiden eigentlich ständig miteinander zu flüstern? Ihr schien, die zwei gingen sehr vertraut miteinander um. Anouk spürte einen Kloß im Hals. Obwohl ihr Max versichert hatte, dass zwischen ihm und Brigitte außer

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