Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
leisten?, dachte sich Bernhardine, aber Johannes enthob sie jeder weiteren Überlegung. Er saß bereits im Schlitten und schnalzte ärgerlich mit der Zunge, weil sie so trödelte. Cornelis saß ebenfalls schon im Sattel. Sein Pferd tänzelte nervös hinter dem Gefährt herum. Das Tier hatte lange Zeit im dunklen Stall ausharren müssen und war deshalb ganz begierig, sich endlich wieder regen zu können. Bernhardine beeilte sich, in den Schlitten zu kommen. Der Meier befestigte die Decken und Felle an den Sitzbänken, der Kutscher knallte mit der Peitsche, und der Zug setzte sich in Bewegung.
Bei ihrer Ankunft war die Kirche mit Menschen überfüllt; es roch nach feuchter Wolle, Körperausdünstungen und Weihrauch. Als die Kirchgänger die Trauernden erblickten, verstummte ihr halblautes Gemurmel, und zwischen den menschlichen Leibern öffnete sich eine Gasse, als zöge ein unsichtbarer Keilpflug eine Schneise durch die Kirche. Johannes schritt erhobenen Hauptes durch die Gemeinde, neigte den Kopf in Richtung des Bürgermeisters und setzte sich dann links vom Altar ins Gestühl der Herren von Hallwyl. Die mit dem Familienwappen verzierten Adelsstühle waren ausschließlich den Familienmitgliedern vorbehalten und durch zwei Stufen von den Langbänken des Mittelschiffes abgetrennt. Bernhardine wusste, dass Bestrebungen im Gange waren, die spätgotische Kirche, die eher einer Festung als einem Gotteshaus glich, abzureißen und eine neue – nach lutherischem Vorbild – bauen zu lassen. Mehrere Male waren der Bürgermeister und die Abgeordneten der lokalen Zünfte deswegen schon bei Johannes vorstellig geworden und hatten um Geld für den Neubau angefragt.
Sie ging, wie es sich geziemte, drei Schritte hinter ihrem Gemahl. Die Blicke der Einheimischen wanderten über ihre Gestalt, und Bernhardine unterdrückte das Verlangen, sich über den Mantel zu streichen. In vielen Augen sah sie Mitleid, in einigen jedoch auch so etwas wie Genugtuung. Und in anderen sogar unverhohlenes Ergötzen. Sie stolperte. Ein dicker Mann in einem grob gewebten Rock kam ihr zu Hilfe. Sie dankte ihm mit einem kurzen Nicken. Was hatte sie den Leuten hier bloß getan, dass man sich nicht einmal einer trauernden Mutter erbarmte? Bernhardine straffte die Schultern, atmete tief durch und blickte geradeaus auf den gekreuzigten Heiland am Ende der Basilika. Ihm war nichts Menschliches fremd. Sie hatte plötzlich das starke Bedürfnis, sich vor ihm in den Staub zu werfen und ihn um Vergebung ihrer Sünden zu bitten. Schon senkte sie das Knie, als dröhnendes Orgelspiel einsetzte und sie erschrocken zusammenzucken ließ. Sie starrte in Johannes’ fragende Augen, riss sich zusammen und setzte sich auf ihren Platz.
Die Kopfschmerzen waren unerträglich geworden, zudem taten ihr nun auch alle Glieder weh. Sie hoffte inbrünstig, dass der Pfarrer die Predigt nicht unnötig in die Länge ziehen würde. Nachdem die Gemeinde das Vaterunser gebetet hatte, war Bernhardine jedoch nicht länger in der Lage, ihre Augen offen zu halten. Ihr Kopf sackte zur Seite, und sie schlief ein.
15
Seengen, 2010
H errgott, Brigitte! Das ist jetzt das vierte Mal, dass du die Szene verhaust. Was ist denn nur los?«
Max raufte sich die Haare und verzog dabei schmerzhaft den Mund. Behutsam ließ er seinen lädierten Arm sinken und blätterte in seinen Notizen. Auf der Bühne stand die Bibliothekarin in dem silberdurchwirkten, tief dekolletierten Kostüm aus Taft und Seide, das Anouk gestern so bewundert hatte.
Brigittes Augen füllten sich mit Tränen. »Tut mir leid, Max«, schniefte sie mit zitternden Lippen, »lass es mich noch einmal versuchen, okay?«
Er seufzte, nickte ergeben und warf Anouk einen genervten Blick zu, die in ihrer Berta-Tracht auf den Holzstufen der Bühne saß und sich köstlich amüsierte.
Die Probe war ein einziges Desaster. Es klappte überhaupt nichts. Zuerst war eine Kulisse auf das Liebespaar gestürzt, dann war Nick bei seinem Abgang gestolpert und hatte sich dabei den Fuß verstaucht, und Brigitte, die unfehlbare Brigitte, vergaß ständig ihren Text. Wenn sie so am Tag der Premiere aufträten, könnten sie es besser gleich bleibenlassen.
Anouk schob die Haube, die ihr dauernd bis auf die Augenbrauen hinabrutschte, zurück und stand auf. Dabei hielt sie den braunen Leinenrock fest zusammen, der so weit war, dass er ihr ständig über die Hüften zu gleiten drohte. Wie Max vermutet hatte, war ihr das Kostüm um einiges zu groß. Die
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