Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
Freundschaft nichts war, verursachte ihr allein schon der Gedanke, dass sich die beiden küssen könnten, Übelkeit. Oder erzählte Max der Bibliothekarin soeben womöglich gar von dem Bild und ihrer Suche nach der Identität der Zinnengängerin? Das wäre ja noch schöner!
Anouk bereute plötzlich, dass sie das Bild in Max’ Praxis zurückgelassen hatte. Sie fühlte sich der Frau auf dem Gemälde seltsam verbunden und wollte nicht, dass andere von dessen Existenz erfuhren. Vielleicht würde ihr das Porträt ja sein Geheimnis offenbaren, wenn sie es näher untersuchte. Sie fuhr zu den beiden hinüber.
»Entschuldigt die Unterbrechung!«, rief sie fröhlich und ignorierte die giftigen Blicke der Bibliothekarin. »Kann ich dich mal sprechen?«, wandte sie sich an Max. »Unter vier Augen bitte«, fügte sie hinzu und fühlte sich großartig, als sie sah, wie Brigittes Gesicht sich verfinsterte.
»Klar«, sagte Max in bemüht neutralem Tonfall. Es war ihm offenbar peinlich, zwischen die Fronten geraten zu sein. »Also dann bis Montag, Brigitte. Und denk über das nach, was ich dir wegen der … Liebesszene gesagt habe.«
Die Bibliothekarin nickte, wandte sich um, hielt dann aber noch einmal inne.
»Und du vergiss meine morgige Geburtstagsparty nicht, gell?«, sagte sie mit honigsüßer Stimme.
Max schlug sich an die Stirn. »Natürlich, wie dumm von mir. Ich komme gern, danke für die Einladung.«
»Fein«, meinte Brigitte und strich sich durch die Haare. »Es wird ganz zwanglos. Ein paar gute Freunde, reichlich Essen und … na ja, wir werden sehen.«
Sie kicherte kokett.
Anouks Augen verengten sich. »Dann gratuliere ich dir doch vorab schon einmal recht herzlich, liebe Brigitte. Wie alt wirst du denn?«, fragte sie und sah mit Genugtuung, wie die Bibliothekarin blass wurde.
Max zog Anouk samt Fahrrad schnell mit sich fort.
»Du bist unmöglich«, zischte er.
Seine linke Backe war noch immer geschwollen und schillerte mittlerweile in allen Regenbogenfarben. Eine breite Schramme zog sich unter seinem rechten Auge bis zum Haaransatz hinauf.
»Schon möglich«, sagte Anouk und wechselte dann das Thema. »Ich möchte gerne das Bild aus deiner Praxis holen.«
»Warum denn? Hast du etwa neue Erkenntnisse?«
Er schien auf einmal wie elektrisiert, und Anouk warf ihm einen prüfenden Blick zu. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Zuerst zeigte er ihr die kalte Schulter, so dass sie sich schon darauf eingestellt hatte, ihre Suche zukünftig allein fortsetzen zu müssen, und jetzt wirkte er gespannt wie eine Feder. Steckten womöglich noch andere Motive hinter seinem Interesse? Sie wurde nicht schlau aus seinem Verhalten, und das ärgerte sie. Normalerweise hielt sie sich für eine gute Menschenkennerin, aber bei Max schien ihr sonst so untrügliches Gespür vollkommen zu versagen. Doch ein Blick in seine Augen zerstreute ihre Zweifel wieder. Letzten Endes spielte es auch gar keine Rolle, weshalb er ihr half, allein dass er es tat, war wichtig. Und so berichtete sie ihm im nächsten Moment auch schon atemlos von Viktoria und danach von Tatis angekündigter Geschichte über den Kurator. Sie beugte sich beim Erzählen zu ihm hinüber und seufzte leicht, als ihr sein Rasierwasser in die Nase stieg. Er zog belustigt einen Mundwinkel nach oben, als er es bemerkte.
»Ich bringe dir das Porträt nachher vorbei«, sagte er und strich ihr dabei sanft über den Arm. »Ich muss sowieso noch einmal in die Praxis zurück, weil ich meine Tasche dort vergessen habe. Und die brauche ich für einen Hausbesuch. Wenn ich sie hole, kann ich das Bild also gleich mitnehmen, nur wird es wohl ziemlich spät werden.«
»Kein Problem«, erwiderte Anouk schnell, der seine Berührung ein weiteres Seufzen entlockt hatte. Sie freute sich schon jetzt auf das nächtliche Treffen mit ihm und hätte ihn am liebsten auf der Stelle geküsst, wären nicht noch einige Schauspieler in der Nähe gewesen.
Max’ Grinsen wurde noch um eine Spur breiter.
Der Teufel soll den Kerl holen!, dachte Anouk ärgerlich, der es alles andere als recht war, dass er sie so leicht zu durchschauen schien. Doch als er aufbrechen wollte, hielt sie ihn am Arm zurück.
»Pass auf dich auf«, sagte sie leise, »ich will dich nicht auch noch verlieren!«
Schloss Hallwyl, 1746
Die Wiese war übersät mit gelbem Löwenzahn. Ein Bächlein gurgelte durch sie hindurch und verschwand im nahegelegenen Fluss. Bienen summten, Amseln sangen, und über allem wölbte sich ein
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