Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
einen schnellen Blick zu, bevor sie sich wieder der blubbernden Soße widmete.
»Warum fragst du das?«
Anouk hob die Achseln. »Aus keinem bestimmten Grund. Ich kann mich erinnern, dass ich den Professor als Kind recht nett fand, aber als ich ihn gestern getroffen habe, benahm er sich … nun ja, etwas komisch.«
»Inwiefern?«
Valeries Stimme hatte einen scharfen Tonfall angenommen. Sie wirkte im Moment nicht mehr wie eine schrullige, ältere Dame, sondern eher wie ein lauernder Puma.
Anouk zögerte, gab sich dann einen Ruck und erzählte ihr von Ruflis unflätigem Gemurmel. Ihre Großtante hörte aufmerksam zu, runzelte die Stirn und seufzte. Sie legte die Soßenkelle auf einen Teller und drehte sich um.
»Ich werde dir etwas erzählen, was dir deine Großmutter – würde sie noch leben – vermutlich schon längst berichtet hätte. Vor allem, da du für eine geraume Zeit hierbleibst. Ich bin zwar dafür, alte Begebenheiten ruhen zu lassen, weil vorbei eben vorbei ist. Und manchmal macht man in seiner Jugend die abstrusesten Dinge, aber nachdem unser lieber Professor sich aktuell so benommen hat, solltest du die Geschichte erfahren. Du kannst dir danach selbst ein Urteil bilden, ob das, was meine Schwester und ich damals erlebt haben, ins Reich pubertärer Hirngespinste gehört oder aber, ob Herbert …«
»Madame Morlot, mais non, mais non! Alors comme ça, je ne peux pas travailler!«
Der Belgier stand, das Gesicht ein einziger Ausdruck der Entrüstung, im Türrahmen und fuchtelte mit den Armen.
»Himmel, Sie habe ich ja ganz vergessen! Aber warum können Sie auf diese Weise denn nicht arbeiten?«, rief Valerie schuldbewusst. »Er meint bestimmt die Sitzung fürs Porträt, Liebes«, wandte sie sich an Anouk. »Die habe ich vollkommen verschwitzt. Kannst du bitte die Soße für mich umrühren? Ich muss mich umziehen. In einer halben Stunde gibst du dann die Nudeln in den Topf.«
Sie drückte ihr den Rührlöffel in die Hand und lief aus der Küche.
»Aber, Tati … die Geschichte!«
Schloss Hallwyl, 1746
Der nächste Morgen brachte Bernhardine zwei Überraschungen. Die erste war Johannes, der am Esstisch saß und eine dicke Erbsensuppe löffelte, als wäre nichts gewesen. Die zweite, dass Gerold sich für alle unerwartet bereits in aller Frühe auf den Heimweg gemacht hatte. Trotz des anhaltenden Schneesturmes hatte ihr Schwager im Morgengrauen seinen Rappen satteln lassen und befand sich vermutlich schon wieder auf der Trostburg. Was für eine Erleichterung, diesem Teufel nicht mehr begegnen zu müssen! Bernhardine wollte sich gerade in ihr Boudoir zurückziehen, um etwas zu ruhen, als man sie in die Halle rief. Die Nachricht von Désirées Verschwinden hatte sich in Windeseile in der Umgebung verbreitet, und nun füllte ein steter Zustrom von Kondolenzbesuchern den Palas. Johannes glänzte mit Abwesenheit. Also musste sie die Aufwartenden empfangen, verköstigen und ihnen für ihr Mitgefühl und ihre tröstenden Worte danken. Am späten Nachmittag befahl sie jedoch dem Meier, keinen einzigen Besucher mehr einzulassen. Ein weiteres »Es ist ja gottlob nur das Mädchen« hätte sie vermutlich zu einem kaltblütigen Mord verleitet. Bernhardine hatte stechende Kopfschmerzen, und in ihrem Hals kratzte es, als wäre er mit einem Reibeisen aufgerauht worden. Sie hatte sich sicher bei den Zwillingen angesteckt, die immer stärker fieberten und sich nahezu stündlich erbrachen. Ein Umstand, der die Luft im Kinderzimmer dementsprechend übel riechen ließ.
Bernhardine beschloss, einen Spaziergang zu machen. Dass sie dieser dann in die Nähe des Westbaus führte, war nicht von ihr beabsichtigt gewesen. Aber da bei diesem Wetter keine Menschenseele im Schlosshof zu erblicken war, ergriff sie die Gelegenheit und klopfte kurzerhand an Cornelis’ Tür.
Der Holländer war höchst überrascht, als er sie erblickte. Er warf seinen Kittel eilig über die Staffelei und wischte sich die rot verschmierten Finger an einem Fetzen Stoff ab, der ihm über der Schulter hing.
»Wie geht es dir?«, fragte er und stellte die Borstenpinsel in ein Glas mit Terpentinöl.
»Gerold ist weg.« Bernhardine schälte sich aus ihrem Wollmantel und legte ihn über einen Stuhl.
»Worüber keiner unglücklich ist«, erwiderte der Maler und trat an den Tisch. Er goss sich ein Glas Bier ein und trank in tiefen Zügen. »Und dein Ehemann?«
Bernhardine schritt in der Kammer umher. Sie griff nach einem zerfledderten Buch, das auf
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